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Bilder der Mannheimer Mittelalterband Saltatio Mortis.

© Robert Eikelpoth/Universal

Dieter Gorny über Deutsche Popmusik: „Mit dem Sommermärchen fing es an“

Einheimische Popmusik beherrscht die deutschen Charts, DJs wie Felix Jaehn und Robin Schulz erobern internationale Märkte. Musikverbandschef Dieter Gorny über den deutschen Pop-Erfolg und seine Ursachen.

Herr Gorny, seit Wochen beherrschen deutsche Produktionen die Charts. Geht es der deutschen Popmusik so gut wie nie zuvor?
Es gibt, das zeigen die Charts, eine große Nachfrage nach in Deutschland produzierter Musik und auch nach deutschsprachiger Musik. Das ist toll. Aber es bleiben noch immer ungelöste ökonomische Probleme wie die Vergütung der Künstler und die Markteintrittsmöglichkeiten für neue Musiker und Bands. Innerhalb der vergangenen 15 Jahre hat sich der Umsatz der Musikindustrie bekanntermaßen nahezu halbiert. Entsprechend sind auch die Einnahmen der Künstler zurückgegangen. Aber es geht aufwärts, von dieser Basis aus nimmt der Markt jetzt wieder zu. Das liegt auch daran, dass die Musikbranche erfolgreich gelernt hat, digital zu agieren, beim Streaming gibt es momentan die größten Zuwächse.

Was sind die Ursachen des Erfolgs?
Die Charterfolge sind das Ergebnis eines langjährigen Normalisierungs- und Ausbalancierungssprozesses. Damit meine ich, dass wir inzwischen in Europa Musikmärkte haben, die ausgeglichen sind. Sie funktionieren nach dem Fifty-fifty-Prinzip: fünfzig Prozent internationale, fünfzig Prozent nationale Produkte. In Deutschland war das lange nicht so. Es gab eine Nachkriegsdelle, noch in den neunziger Jahren hatten wir einen Schnitt von nur etwas über zwanzig Prozent einheimischer Produktionen. Mittlerweile hat sich der Umgang des Publikums mit deutschen Produkten normalisiert: Es schätzt eben verstärkt auch deutschsprachige Musik.

In den Hitparaden rangiert der Hip-Hop von Marteria neben dem Technopop von Paul Kalkbrenner und dem Schlager von Helene Fischer. Gibt es etwas, das diese Musik verbindet?
Wenn das Internet etwas hervorgebracht hat, dann ist es eine ungeheure Vielfalt und eine Demokratisierung des Musikzugriffs. Was die Charts widerspiegeln, ist die Existenz verschiedener Märkte, verschiedener Communities, verschiedener Fanstrukturen. Interessant ist nicht, dass wir einen deutschen Schlager haben, der immer mehr zu deutscher Popmusik wird. Interessant ist, dass deutsche Produktionen heute auch in der elektronischen Musik, die früher ein ausschließlich angloamerikanisches Genre war, oder im Hip-Hop und im Heavy Metal international mithalten können.

Ist das ein neues Phänomen?
Früher feierten die Scorpions oder Rammstein enorme Erfolge im Ausland. Aber in Deutschland stießen sie noch auf Widerstand oder Ignoranz. Da hieß es: „Wow, der Song klingt gut. Wo kommt er denn her?“ – „Aus Hannover“ – „Ach, du liebe Güte.“ Jetzt werden die Karrieren von deutschen Künstlern in Deutschland viel positiver wahrgenommen. Das ist gut für die Kreativität. Diese Normalisierung fing mit der Fußball-WM 2006 an, dem „Sommermärchen“, und schlägt sich nun auch auf dem Musikmarkt nieder.

Dieter Gorny.
Dieter Gorny.

© Markus Nass

Pop wird inzwischen an Hochschulen unterrichtet, an der Mannheimer Popakademie oder beim Popkurs in Hamburg. Folgt die Musik dem Erfolgsrezept des deutschen Fußballs: Kein Talent darf verloren gehen?
Auch das gehört zur Normalisierung. Früher hieß es: Popmusik kann man nicht unterrichten, zur Popmusik muss man geboren sein. Man glaubte, ein Rockmusiker lebt im Keller, hat kein Geld und begehrt mit seiner Gitarre gegen das Establishment auf. Alles Humbug. Mittlerweile weiß man, dass Handwerkszeug, das Schaffen von Netzwerken und Kommunikationsfähigkeit nicht hinderlich dabei sind, auch noch gute Musik zu machen. In den Akademien unterrichten erfahrene, oft erfolgreiche Musiker. Was kann ein guter Lehrer leisten? Er hilft Talenten, Zeit zu sparen, keine Irrtümer zu begehen, schneller ans Ziel zu kommen.

Viele Hits entstammen TV-Formaten wie „Sing meinen Song“ oder Castingshows. Ist das Fernsehen das wichtigste Marketinginstrument der deutschen Musikindustrie?
Bei Castingshows geht es um große Fernsehemotionen mit Musik. So ein Fernsehevent, aus dem heraus Musik entsteht, ersetzt nicht den nachhaltigen Aufbau von Künstlern. Wir haben einen sehr wechselhaften, kleinteiligen Musikmarkt, in dem es immer schwerer wird, längerfristige Künstlerkarrieren zu etablieren. Und die Stars aus den Castingshows haben es oft schwer, nachhaltige Karrieren aufzubauen.

Nach zwei Jahren mit Umsatzsteigerungen ist der deutsche Musikmarkt im ersten Halbjahr 2015 erneut um 4,4 Prozent gewachsen. Hat die Branche ihre Krise überwunden?
Sie hat jedenfalls Geschäftsmodelle entwickelt, die nachgefragt werden. Aber angesichts des ungeheuren Tempos der technologischen Veränderungen würde ich noch nicht Entwarnung geben. Die Musikbranche ist auf einem guten Weg, aber wie nachhaltig der jetzige Erfolg sein wird, wird sich erst in einigen Jahren zeigen, denn das hängt auch von den politischen Rahmenbedingungen ab.

Beim Streaming gibt es derzeit Zuwächse von fast 90 Prozent. Aber bei den Musikern kommen nur Kleinbeträge an. Ist das Wachstum von Spotify, Deezer oder Apple Music eine gute oder schlechte Nachricht?
Wenn man auf die Prozentzahlen am gesamten Musikmarkt schaut, ist zu erkennen, dass das Streamen noch relativ neu und nach wie vor vergleichsweise klein ist. Wir haben immer noch einen stark physisch dominierten Markt von fast 70 Prozent. Sollte Streaming tatsächlich zum, wie viele Medien schon jetzt glauben, dominanten Vertriebsweg werden, werden sich auch die Rahmenbedingungen anpassen. Eine solche Dominanz sehe ich derzeit nicht. Als Gegenbewegung erleben wir das Comeback von Vinyl mit beeindruckenden Wachstumszahlen, wenn auch in der Nische. Musik wird in Zukunft noch vielfältiger zu den Menschen gebracht werden als jetzt.

Kürzlich wurde gefeiert, dass mit „Cheerleader“ von Felix Jaehn erstmals seit 25 Jahren ein Deutscher die Spitze der US-Charts eroberte. Es handelt sich um die Bearbeitung eines Songs des jamaikanischen Sängers OMI. War der Jubel chauvinistisch?
Das Bearbeiten fremder Stücke ist von Anfang an Bestandteil der DJ-Kultur gewesen. Der Hip-Hop mit seinen Samples operiert ähnlich. Mit Einverständnis des Ursprungskünstlers entsteht ein völlig neues Stück. Die Tantiemen werden geteilt. Der Erfolg von Felix Jaehn, der gerade einmal 20 ist, zeigt, dass deutsche Musik in einem stilistischen Umfeld mit internationalem Zuschnitt mithalten kann. Ich finde es toll, dass es diesen Sommerhit gibt. Wir haben viele DJ-Talente in Deutschland, ein anderes Beispiel ist Robin Schulz, der im letzten Jahr mit seinem Remix von „Waves“ den ersten Platz der englischen Charts erreicht hat.

Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb: „Deutsch ist der Eifer, mit dem die Leistung der jamaikanischen Beteiligten kleingeredet und der Beitrag aus Hamburg aufgebauscht wird.“ Ist das zu böse formuliert?
Ja, weil es verkennt, dass durch die Bearbeitung ein ganz eigener stilistischer Fingerabdruck entstanden ist. Felix Jaehn hat diesen Song nicht erfunden, aber in seinem Genre leistet er etwas, was vielen Leuten in der ganzen Welt gefällt.

Drückt der Erfolg der deutschen Musik auch die Selbstgefälligkeit eines Landes aus, das sich selbst genug ist?
Da widerspreche ich. Durch den Erfolg deutscher Popmusik werden eher Dinge normal, die vorher nicht normal waren. Gerade aufgrund unserer Geschichte im Popmarkt sind wir in Deutschland weit davon entfernt, nur einheimische Musik wahrzunehmen. Wir beginnen aber gerade, auch deutsche Popmusik zu hören.

Das Gespräch führte Christian Schröder

Als Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Musikindustrie ist Dieter Gorny, 62, Cheflobbyist der deutschen Popmusik. Der studierte Musiker (Kontrabass, Klavier, Komposition) gründete 1989 die Messe Popkomm und 1993 den Fernsehmusikkanal VIVA. Bei der neuen Musikmesse Pop-Kultur, Nachfolgerin von Popkomm und Music Week, diskutiert Gorny mit Justizminister Heiko Maas über das Urheberrecht. Die Pop-Kultur findet von Mittwoch bis Freitag im Berghain statt. Auf dem Programm stehen Workshops, Lesungen, Debatten und Konzerte. Dazu gehören Auftritte von Matthew Herbert, Sophie Hunger, Neneh Cherry und Pantha Du Prince (Programm unter www.pop-kultur.berlin).

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