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Kultur: Diskretionszone

Modernisierung in Multikultiland – eine Textinterpretation

„Sehr geehrte Kundin, sehr geehrter Kunde!“ steht auf dem Schild am Absperrband der Filiale. „Warten Sie bitte hier und treten dann an den nächsten freien Schalter. Wir bieten alle Leistungen an jedem Schalter an. Danke.“ Das Wort „alle“ ist unterstrichen. Der Unterstrich betont den Informationskern des Textes. Seine Botschaft richtet sich an Menschen, denen das Kundenleitsystem der Post rätselhaft erscheint. Das Schild ist ein Dokument der Modernisierung, die in Deutschland an manchen Orten bereits stattgefunden hat.

Jede Gesellschaft ist so modern wie ihre Post. Wir in Mitteleuropa denken da sofort an Thurn&Taxis. Mobilität! Kommunikation! Der Postillon als Pionier der Neuen Zeit! Bereits in den 90er Jahren, ein halbes Jahrzehnt vor ihrem Börsengang, hat die Deutsche Bundespost, wie sie damals hieß, mit der Einführung so genannter Kundenleitsysteme, Universalschalter und zentraler Wartepunkte begonnen. Vorausgegangen war dieser Umwälzung allerdings eine Kommission zur Erfindung radikaler Strukturreformen, Überschrift: Wie kommen wir weg von miefigen Schalterhallen, in denen frustrierte Klientenschlangen sich Beine in den Bauch stehen, während hinter undurchsichtigen Scheiben kafkaeske Beamte nach dunklen Gesetzen einer unanfechtbaren Hierarchie auftauchen und verschwinden? Wie werden wir kundenfreundlich? Das Problem war erkannt, die Kommission entsandte Fachleute zur Recherche, welche in den USA, dem Service-Musterländle der Moderne, den Universalschalter aufspürten. Der Rest ist Dienstleistungsgeschichte.

Das nebenstehende Schild aus der Wartezone eines Berliner Postamtes zeigt den Zeitgenossen des Jahres 2003, dass wichtige Themen der Modernisierung in Deutschland verstanden worden sind. Die Klienten öffentlicher Unternehmen werden nicht mehr von oben herab behandelt, sondern gleichberechtigt als Käufer angeredet; Demokratie und Marktwirtschaft gehen Hand in Hand. Zwar klingt der erste Satz des Textes etwas kindergarten-like, so als müsse die Begriffsstutzigkeit des Bürgers sehr hoch veranschlagt werden. Dann aber folgt ein Service-Blanko-Scheck, der beweist, dass Berlins multifunktionale Postler, obgleich sie noch nicht in der Lage sind, ihre Filiale am Bahnhof Zoo sonntags zu öffnen, doch irgendwie die Arbeitnehmer-Zeichen der Zeit akzeptieren. „Alle Leistungen“! Hier sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt, Kundenbedürfnisse werden konsumanregend stimuliert. Das kollektive „wir“ verbreitet zudem den Optimismus ungebrochener corporated identity. Befremdlich allerdings wirkt die lakonische Interpunktion am Ende: Danke Punkt. Das hat was von der poetischen Ästhetik eines Klofrau-Schildes; an dieser Schlusspointe werden postalische Kommunikatoren noch feilen müssen. Schwankend zwischen Korrektheit, Servilität und Ausgebufftheit dokumentiert ihr Text, dass der Weg ins Paradies der Marktfähigkeit beschritten, aber nicht vollendet wurde.

Eigentlich sollte man die Neue Zeit ihren Kindern nicht groß erklären müssen. Eigentlich, sagt eine Berliner Post-Sprecherin, brauche die Diskretionszone, der zentrale Wartepunkt und sein Universalschalter niemandem erläutert zu werden. Ein Schild zur Verständlichmachung des Kundenleitsystems sei eigentlich nicht vorgesehen. Selbst Ausländern sei dieses Ordnungswerk ohne weiteres einsichtig, die verstünden es oft schneller als die Deutschen. Doch das Berliner Universalschalter-Erläuterungsschild ist viersprachig. Es richtet sich an die größten Ethnien der babylonischen Spree-Metropole und fixiert (ein Dokument dieser Tage für die Archäologen künftiger Epochen!) den aktuellen Vielvölkerstatus der Einwandererkapitale von Multikultiland.

„Liebe Kundschaft“, hebt die türkische Übersetzung an und endet euphorisch mit „Vielen Dank!“. Solche Herzlichkeit sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die türkische Anrede geschlechtsspezifisch in der Schwebe bleibt. Wie steht es denn, nebenbei, in der türkischen Sprache und in der türkischen Gesellschaft vor den Toren unseres Abendlandes um die Rechte der Frau? Offenbar ist auch die pluralistische Komplexität eines künftigen Großeuropa auf dem Leitsystem-Erläuterungsschild versammelt, in vierfacher Widersprüchlichkeit. Dabei beharrt die russische Anrede („Geehrte Kunden“) auf einem grammatischen Chauvinismus, den offen zu bekennen sich in Deutschland kein Politiker mehr traut. Andererseits kommt die Übersetzung der Russen, welche sich im Gegensatz zur Türkei derzeit nicht mal als EU-Kandidaten präsentieren müssen, mit ihrer kollektiven Formel „Wir bieten alle Leistungen an jedem Schalter an“ dem deutschen Postler- „wir“ sehr nahe. Gemessen an diesem Belegschafts-Schulterschluss der Deutschen und der Russen geht die türkische Version desselben Satzes auf passive Distanz: „An allen Schaltern werden alle Dienstleistungen durchgeführt.“ Ob der Universalschalter in der Türkei noch umstritten ist?

Auf Polnisch, das muss wohl als Symptom der EU-Schwellenangst gedeutet werden, lautet der zweite Satz genauso behördensprachlich wie im Türkischen. Doch davon abgesehen präsentiert sich das Idiom unserer östlichen Nachbarn aufgeweckt, der Zukunft zugewandt: Die Anrede („Sehr geehrte Klienten, sehr geehrter Klient!“) ist politisch korrekt, der erste Satz „Die hier Wartenden gehen bitte zum ersten freien Schalter“ hat Drive, das Ausrufungszeichen nach dem Danke stimmt positiv. Auf nach Brüssel! möchte man den Wartenden zurufen. Flexibilität, Mobilität, Leistungssteigerung! Warschau, nicht Berlin, funktioniert derzeit als Tor zum Osten; bald kommen ungeahnte russische Herausforderungen aus Kaliningrad bis ins Schengenland; kulturelle Überraschungen vom Bosporos werden ebenfalls kaum auf sich warten lassen.

Und Deutschland pflegt seine Diskretionszonen.

Die gibt es nämlich nicht nur in Postämtern. Die politische Diskretionszone verhindert, dass uns jemand zu nahe tritt. Reformen? Neujahrsappelle? Erstmal `ne Kommission für die Strukturrevolte. „Bitte warten Sie hier.“

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