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Welttheater. Szene aus „Europeras“ in der Ausstattung von Klaus Grünberg und Florence von Gerkan. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

© Wonge Bergmann

Kultur: Divendämmerung

Heiner Goebbels startet seine Intendanz der Ruhrtriennale mit „Europeras 1 & 2“ von John Cage.

„Wer mit den Augen auf dem Gegenstand liegt, sieht ihn nicht“, zitiert der eine Heiner (Goebbels) gern den anderen Heiner (Müller). Lassen wir also den Blick schweifen. Denn die Kraft komme nicht aus der Zentralperspektive, sondern „eher aus der versetzten Kausalität“, wie Müller über das Theater von Robert Wilson geschrieben hat, zu dessen Vorbildern John Cage zählt.

Goebbels, vierter Intendant der 2002 gegründeten Ruhrtriennale, beginnt programmatisch mit Cage, der in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden wäre. Mit „Europeras 1 & 2“ aus der fünfteiligen Serie des amerikanischen Minimalisten gestaltet das NRW-Landesfestival ein Werk, das wie im Schleudergang das Repertoire von 128 Opern verwirbelt. Die Bochumer Jahrhunderthalle bietet den idealen Spielplatz für Cages Demontage der Gattung – zum Zwecke, sie zu feiern.

Den Impuls, Stücke und Stoffe perspektivreich zu kombinieren und in aufgerauten, realitätsgehärteten Kontexten aufzuführen, gab Gerard Mortier. Der erste Intendant des Gegen-Salzburgs zwischen Duisburg, Essen und Bochum schuf das Crossover-Format „Kreation“. Heiner Goebbels radikalisiert diesen Ansatz und macht die sechs Wochen bis Ende September mit circa 20 Premieren unter anderem von Romeo Castellucci, Jan Lauwers und Robert Lepage zur Kontaktstelle für die Kunstformen. Integriert wird die bildende Kunst, beispielhaft mit dem Museum Folkwang und der begehbaren Installation „Twelve Rooms“. Der zeitgenössische Tanz erhält eine prominente Plattform als innovativste und von institutionellem Ballast weitgehend unbelastete Gattung. So zeigen etwa Boris Charmatz, Anne Teresa De Keersmaeker, Mathilde Monnier und Laurent Chétouane neue Produktionen.

Exemplarisch für Goebbels’ Kunstwillen und choreografisches Interesse steht das Engagement des aus Samoa stammenden Lemi Ponifasio, der Carl Orffs „Prometheus“-Oper mit seiner MAU-Company, Schauspielern wie David Bennent, Sängern und Musikern einstudiert. Goebbels, der in gleichem Atem wie Ponifasio „das demokratische Recht des Zuschauers auf Fantasie“ betont, sieht in dem auf Aischylos basierenden Werk eine Alternative zur psychologisch motivierten Literaturvertonung. Die Kraft des Wortes, der Klang der Sprache und das formal Widerspenstige schaffen eine Verbindung zu John Cage. Dessen Spielregeln für „Europeras“ lauten: „Alle einzelnen Elemente und Parameter sind unabhängig voneinander.“ Nicht nur Musik, Gesang und Klang, auch Requisite, Bühne, Licht und Bewegung suggerieren, koordiniert von der Regie, Wechselwirkungen – und versetzte Kausalität. Entmachtet sind lineare Struktur und Chronologie.

64 Quadrate bilden das Grundraster der Aufführung, die ohne Festlegungen dann doch nicht kann. Ein Timecode dirigiert den Ablauf und dokumentiert das Verrinnen der Zeit: Exakt 90 Minuten dauert der erste Teil. Alles wird zu Verschiebematerial: die Auftritte in ihrer Rhetorik und Emotion, auch in ihren Klischees; die fulminante Ausstattung (Klaus Grünberg) und die Couture der Kostüme (Florence von Gerkan); die bravourösen Sängerdarsteller, die Musiker des Festivalorchesters nebst der halben Hundertschaft „Assistenten“ – und zuvörderst die „gesampelten“ Arien, die sich vom Solo ins Duett und Terzett schneiden und bis zum Sextett steigern.

Zeitsprünge, Bilderstürme, barocker Kulissenzauber, Maskeraden, Modewechsel folgen im Minutentakt: von der Rokokodame zur elisabethanischen Lady zur Waldfee zur Diva mit Callas-Scheitel; vom wuchernden Dschungel und Höllenschlund zum Galgenbaum; von dem in Flammen lodernden griechischen Tempel bis zum gotischen Dom am Endpunkt der 90-Meter-Halle, vom schneeigen Feuerwerk zur Venedig-Kulisse.

Baustelle Bühne: Plötzlich stanzt der Apparat schwarz-weiße Silhouetten zur ägyptischen Landschaft mit Pyramiden aus, während vorn über einen Schleier ein historischer Scala-Saal schimmert. Stolz leiden Carmen, Dido, Norma, Mélisande, die Walküre; Händel und Purcell lassen sich heraushören, ebenso Verdi und Wagner, Monteverdi, Mozart und Mussorgski, deutsche Romantik, „Wozzeck“.

Seinen Augen darf man so wenig trauen wie den Ohren und dem kollektiven Gedächtnis, als seien die objets trouvés der verlorenen Helden und Heroinen aus Partitur und Libretto gefallen. Präzision und minutiöses Timing entstehen aus libertinärem Geist und halbironischem Gestus. Was ist Überblendungstechnik, was blendender Effekt? Ob das hermetische Ratespiel mehr intellektuelle Anstrengung oder sinnliches Vergnügen bietet, eher opulente audiovisuelle Revue oder sublimes Reflexionstheater ist, das seine Methode ausstellt und damit unsere Imagination provoziert, bleibt unentschieden. Es ist Schaumusik und Hörtheater, wobei sich eine Revolte ästhetischer Konventionen auf der Bochumer Bildfläche nicht zu erkennen gibt. Ist Cage so luxuriös, wie er hier wirkt?

Der kürzere Teil zwei, der in einem gravitätischen Panorama mit schwarz gewandeten Interpreten besinnend zur Ruhe gelangt, beantwortet die vorherige Fülle in aller Bescheidenheit. Ist „Europeras“ nun der Triumph des Postdramatischen über das Narrative oder doch der Beweis magischer Mangelerscheinung angesichts analytisch durchkühlter Konzeption? Die Ruhrtriennale unter Goebbels sendet mit der eleganten Performance, die weniger avantgardistisch ist als ihr Regisseur, jedenfalls ein unüberhörbares Signal.

„Europeras 1 & 2“ sind noch am 17., 19., 21., 29. und 31. August sowie 2. September zu sehen, das Festival läuft bis 30. September. Infos: www.ruhrtriennale.de

Andreas Wilink

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