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Kultur: Donner und Duce

Unter Schwarzhemden: Antonio Pennacchis epochaler Siedlerroman „Canale Mussolini“.

Schreiben ist keine Unterhaltung für mich“, sagt Antonio Pennacchi. Vielmehr bedeutet es für den energischen 62-Jährigen eine Pflicht, denn er fühlt sich als „kollektive Stimme meiner Verwandten und derjenigen, die nicht mehr da sind, die nicht aus den Kriegen zurückgekehrt sind. Und ich bin die Stimme meiner Kollegen aus der Fabrik. Ich fühle mich als Stimme der unterdrückten Klasse, des Proletariats – bestehend aus Bauern und Arbeitern“.

Pennacchi ist der seltene Fall eines echten, stolzen Arbeiterschriftstellers. 30 Jahre lang arbeitete der Autor des epochalen zeitgeschichtlichen Romans „Canale Mussolini“ in seiner Geburtsstadt Latina in einer Kabelfabrik. Erst 1932 gegründet, gehörte Latina wie Aprilia zu den Musterstädten im trockengelegten Gebiet der Pontinischen Sümpfe südlich von Rom. 147 faschistische Städte in ganz Italien hat Pennacchi für sein Buch „Fascio e martello“ (Rutenbündel und Hammer) bereist. Für deutsche Verhältnisse geht er darin sehr unkritisch mit dem architektonischen Erbe Mussolinis um. Gleichzeitig betont er in „Canale Mussolini“, dass einige der Planer der pontinischen Neugründung Aprilia Juden waren, die später im KZ Mauthausen umgebracht wurden. 1938 hatte auch Italien sogenannte Rassegesetze eingeführt.

Als „schön und beunruhigend“ wertet die italienische Presse jede Neuerscheinung des Arbeiterschriftstellers Pennacchi. Ein Rezensent bezeichnete ihn als die edelste Hervorbringung der Pontinischen Sümpfe. „Canale Mussolini“ wiederum stellt für Pennacchi erklärtermaßen sein Lebenswerk dar: „Dass ich dieses Buch schreiben muss, wusste ich schon mit sieben Jahren, als kleiner Junge. Es ist, als ob mir diese Aufgabe gestellt wäre, diese Geschichte festzuhalten, damit sie nicht verlorengeht. Es ist vor allem die Geschichte dieses Exodus und dieser Aufgabe, die meine Verwandten als gigantisch begriffen und auf die sie stolz waren: darauf, dass sie die Sümpfe trockengelegt und darauf Städte erbaut hatten. Es handelt sich somit um die Geschichte meiner und der dreitausend anderen Familien. Es handelt sich um mein Volk und meine Heimat.“

Aber Pennacchi provoziert ohnehin immer gern: Aus der Gewerkschaftsbewegung kommend, wechselte er mehrfach zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten. Letztes Jahr kandidierte er für den linken Flügel einer rechten Splitterpartei – ohne Erfolg. Sein großer Traum stellt die Vereinigung der politischen Extreme dar. Konsequenterweise verliebt sich im Roman die Sozialistin Armida, eine Art Seherin, die mit Blumen und Tieren spricht, in einen ultrarechten Adonis namens Pericle Peruzzi.

Es ist die Geschichte der Umsiedlerfamilie Peruzzi von 1904 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, die Pennachi schildert, und zwar auf eine volkstümliche, scheinbar naive Weise. Barbara Kleiner hat diesen Stil hervorragend ins Deutsche gebracht, ohne Dialekte nachahmen zu müssen. Pennacchis Ich-Erzähler spricht wie am Dorfbrunnen oder beim Friseur einen fiktiven Zuhörer an und versucht, diesen von seiner Haltung zu überzeugen. „Wir waren alle hundertprozentige Faschisten“, heißt es immer wieder, oder: „Donnerwetter, was unser Duce alles kann!“

Noch im Veneto schließen sich die Bauernsöhne Peruzzi dem aufkeimenden Faschismus an, der sich ab 1919 mit Stützpunkten auf dem Land organisiert, den „Fasci“. Pericle und seine Brüder, die ähnlich wohlklingende antike Namen tragen, lassen sich von den Frauen der Familie schwarze Hemden schneidern. Sie gefallen sich darin, mit Gewalttaten die Gegend unsicher zu machen. Als dabei ein widerständiger Priester ums Leben kommt, tritt in diesem Epos der Gründungsmythen der Sündenfall ein.

Die Frauen erfüllen sich bei Pennacchi in der Mutterschaft, die Männer dagegen lassen bei der Feldarbeit mit freiem Oberkörper ihre Muskeln spielen. 1932 treffen die Siedler aus dem Norden Italiens in den Pontinischen Sümpfen ein, um sie urbar zu machen – ein faschistisches Prestigeprojekt. Zum Duce, der zu ihrer Unterstützung öffentlichkeitswirksam mit einem neu entwickelten Fiat-Traktor in Orange vorfährt, pflegen die Peruzzis ein ausgesprochen familiäres Verhältnis. Schließlich haben sie 1922 an Mussolinis Marsch auf Rom teilgenommen, der die Diktatur einleitete.

„Es war unter dem Faschismus, dass uns erstmals jemand zuhörte“, lässt der Autor seine Figuren erklären. Er habe keinen Roman über den Faschismus an sich schreiben wollen, sagt Pennacchi, sondern einen über Menschen, und das auf „ehrliche Weise“, denn: „Wenn ich nur über die Übel des Faschismus geschrieben hätte, nur über Mussolinis Fehler, wäre das unehrlich gewesen, da es nicht der Wahrheit entspricht.“ Er ironisiert den Machthaber (und dessen lästigen Besucher Hitler) also höchstens, karikiert ihn aber nie.

Zu den Ernteschlachten kommen immer mehr reale, blutige Schlachten wie der Spanische Bürgerkrieg oder Mussolinis Afrikafeldzug, zu denen die Männer gerufen werden. Nun beginnt der Roman bei aller Großsprecherei eine starke Sogwirkung zu entfalten. Er gipfelt in der beinahe mythischen Zeugung und Geburt des Ich-Erzählers, der seine Identität erst am Schluss enthüllt.

„Canale Mussolini“, 2010 mit dem bedeutenden Premio Strega ausgezeichnet, ist ein höchst widersprüchliches, lebenspralles Buch – und ein überzeitliches Vermächtnis. Das verdankt sich der besonderen Erzählhaltung seines Autors Antonio Pennacchi.„Ich schreibe nicht, indem ich meinen Bauchnabel betrachte“, gesteht er. „ Ich bin kein bürgerlicher Schriftsteller, der sich selbst Geschichten erzählt, sondern ich erzähle sie den anderen – meinen Verwandten, meinen Kameraden und meinen Kindern. Auch meinen Onkeln, die es nicht mehr gibt. Ich spreche also auch mit den Toten.“ Dieser Roman legt Zeugnis davon ab.

Antonio Pennacchi: Canale Mussolini.

Roman. Aus dem

Italienischen von

Barbara Kleiner.

Carl Hanser Verlag,

München 2012.

448 Seiten, 24,90 €.

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