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Kultur: Du hast keine Chance

Den Ruf als glamouröse Ballettchefin hat Blanca Li sich mit Leichtigkeit erspielt. Doch ihre Bewährungsprobe als Choreografin stand ihr noch bevor.

Von Sandra Luzina

Den Ruf als glamouröse Ballettchefin hat Blanca Li sich mit Leichtigkeit erspielt. Doch ihre Bewährungsprobe als Choreografin stand ihr noch bevor. In ihrer Einstandschoreographie "Der Traum des Minotaurus" feierte sie die Schönheit des menschlichen Körpers. Die Flattertuniken der Amazonen und Halbgötter haben die Tänzer nun abgestreift. Mit "Borderline", ihrer ersten Berliner Uraufführung, wagt Blanca Li den Sprung in die Gegenwart, und wagt gleich noch eine choreografische Zeitanalyse. Ihre Diagnose fällt wenig überraschend aus: Die Welt spielt verrückt - "Time out of mind", wie schon Bob Dylan sang. Und es hat den Anschein, als hätte Blanca Li und ihre Dramaturgin Adolphe Binder einmal die Zeitung quer gelesen und alle Krisen, Katastrophen und Skandale aufgelistet - um dann locker darüber hinwegzutanzen.

Für ihr Projekt hat die Spanierin ein internationales Team zusammengestellt. Die Modedesignerin Lucy Orta hat sich in Kunstkreisen einen Namen gemacht mit "Refuge Wear", einer Überlebensausrüstung für die Nomaden des 21. Jahrhunderts. Für "Borderline" hat sie die Tänzer in graue Schutzanzüge mit roten Kapuzen gesteckt - ein wenig erinnert das an die Schlümpfe. Oder an eine Autobahn-Patrouille. Matthew Herbert, eine schillernde Figur der elektronischen Musikszene, verstärkt mit wummernden Techno-Beats die Bühnenhysterien.

Zu Beginn zappeln alle in ihren Zwangsjacken - und das recht ausdauernd. Doch hier fliegt keiner übers Kuckucksnest. Kein Ausbruch aus einem mentalen Gefängnis wird geprobt, stattdessen wird vorgeführt, wie man einem Ballettabend jedes Fünkchen Geist austreiben kann. Wenn Choreografin Li die Hysteriker der New Economy über die Bühne hasten lässt, ist das schon der erste Einbruch. Zu sehen ist eine konfuse Börsianer-Pantomime mit blinkenden Kursdiagrammen, dazu parallel Videos aus der Arbeitswelt. Spekulanten-Wahn, Fitness-Wahn, Liebes-Wahn, Wohlstandgesellschaft, Hunger in der Dritten Welt - und rennende Hennen. Krise folgt auf Krise, die Katastrophenszenarien werden durchgespielt: Was Blanca Li dazu einfällt, ist von erschütternder Einfallslosigkeit. Die Filme wirken wie ein flüchtiger TV-Zusammenschnitt, wo das Doku-Material den Kontext vorgibt, zappelt der Tanz hilflos hinterher. Eine Bewegungssprache, die von innerer Zerrissenheit und Entfremdung erzählen könnte, steht Blanca Li nicht zur Verfügung. Die Bewegungen wirken völlig beliebig. Konzeptionslos ist auch die Dramaturgie, die sich mit einer simplen Auflistung begnügt: der westliche Sexmaniac und Narziss auf dem Dancefloor bekommt das gleiche Gewicht wie das Flüchtlingselend in Ruanda. Das ist nicht nur von stupender Blauäugigkeit, sondern offenbart eine erschreckende Ignoranz.

Nach der Pause wird es dann ganz finster. Die Tänzer hechten als lebende Zielscheiben über die Bühne - zigmal getroffen, machen sie daraus ein energetisches Durchhalte-Ballett. Auch der Humor ist grenzwertig. Bilder aus einem Flüchtlingslager werden kontrastiert mit einer "Lustig-ist-das-Nomadenleben"-Camping-Nummer, jeder ein mobiles Ein-Mann-Zelt. Das Krüppelballett zeigt alle quietschfidel mit Beinschienen - mach das beste aus deinem Handicap! Und man fragt sich längst: Warum kontrolliert keine Geschmackspatrouille die Bühne?

Eine Botschaft möchte Blanca Li am Schluss noch loswerden: SHARE und PARTAGE steht auf den Stoffbahnen, die die Tänzer zu einer Menschenkette verbinden. Eine Good-will-Aktion ist aber so ziemlich das Letzte, was man noch sehen will. Zunächst fassunglos, dann zunehmend erbost sieht man dem kopflosen Treiben auf der Bühne zu. Die Grenze des Flachsinns und der Geschmacklosigkeit wird immer wieder überschritten. Konzeptionell und choreografisch ist "Borderline" ein Offenbarungseid. Blanca Lis kalkulierte Selbstbeschädigung als Künstlerin. Das missratene Krisenballett könnte sich zur Ballettkrise auswachsen.

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