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Halt mich fest. Friedhelm Denkeler nannte seine 1980 entstandene Aufnahme „Trost“.

© Friedhelm Denkeler

Werkstatt für Photographie im C/O Berlin: Du musst näher ran

Aufregende Zeiten in West-Berlin: C/O Berlin feiert die 1976 gegründete „Werkstatt für Photographie“ und zeigt, wie Kreuzberg zum Kunstzentrum aufstieg.

Vielleicht hat das Selbstbewusstsein der achtziger Jahre so ausgesehen: keine Bärte, neue Härte. Die Menschen, die Wilmar Koenig zwischen 1981 und 84 fotografiert hat, wirken müde und gelangweilt. Sie haben ihre Köpfe leicht zurückgeworfen, die Lippen sind geschlossen, in ihren Augen funkeln Lichtreflexe. Das Gesicht einer Frau ist fast ganz hinter ihren Haaren verborgen, die Männer zeigen sich mit adretten Kurzhaarfrisuren. Mit dem Gefühlsüberschwang der Hippies wollte man nichts mehr zu tun haben. An die Stelle von Protest und Schulterschluss traten Kälte und Ironie, die Jugendkultur zerfiel in feindliche Lager. Aus Punk war New Wave geworden, es kursierten Parolen wie „Verschwende deine Jugend“, „Zurück zum Beton“ oder „Gemeinsam sind wir unausstehlich“.

Die beeindruckenden Close-up-Porträts von Koenig hängen in der Ausstellung „Kreuzberg – Amerika“ bei C/O Berlin. Es ist eine Zeitreise zurück in eine Ära, in der West-Berlin noch eingemauert war, in den Fassaden der Häuser die Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg zu erkennen waren und die Subkultur sich in leer stehenden Fabriketagen und Hinterhofremisen eingerichtet hatte. 1976 gründete der Berliner Fotograf Michael Schmidt an der Kreuzberger Volkshochschule die „Werkstatt für Photographie“, die innerhalb von kurzer Zeit zu einem Forum für eine neue, zeitkritische Fotokunst mit internationaler Ausstrahlung aufstieg.

Vorbilder waren die radikal subjektiven Meister aus den USA

Die „Subjektive Fotografie“ der Nachkriegszeit, bei der die Form stets wichtiger gewesen war als der Inhalt, ließen Schmidt und seine Schüler hinter sich, auch mit dem stärker akademischen Ansatz der Düsseldorfer Fotoschule wussten sie nur wenig anzufangen. Sie wollten das echte Leben in all seiner Pracht und Hässlichkeit zeigen. Vorbilder waren die radikal subjektiven Meister der amerikanischen Straßen- und Porträtfotografie. Einige Idole wie William Egglestone, Stephen Shore und Robert Frank kamen für Ausstellungen und Seminare nach Berlin.

Michael Schmidt, der 2014 starb, verstand sich als Großstadtchronist. Seine Serie „Berlin-Wedding. Stadtlandschaft und Menschen“ aus dem Jahr 1978 knüpft an die neusachliche Fotografie der Weimarer Republik von August Sander und Albert Renger-Patzsch an. An einem Eckhaus in der Badstraße vermischt sich wilhelminischer Stuck mit dem Neonoptimismus der Adenauerjahre, der für ein Café wirbt. Ein glänzend polierter Opel Kadett parkt stolz an der Wollankstraße. „Nudeln 250 Gramm –,79“ und „Cinzano 4,95,-“ werben handschriftliche Sonderangebote an einem Tante-Emma-Laden in der Gerichtstraße.

Berlin als Bühne. Ein Grauschleier liegt, wie kurz danach die Fehlfarben singen sollten, über der Stadt, in kleinbürgerlichen Verhältnissen ist der Wohlstand noch nicht angekommen. Schmidt hat für die Serie einige Protagonisten an ihrem Arbeitsplatz und in der eigenen Wohnung besucht. Eine „Inspektorin z. A. beim Bezirksamt Wedding“ sitzt an ihrem noch computerlosen Schreibtisch hinter Stempeln und drehbarer Adresskartei, Zigaretten und Feuerzeug in Griffweite. In ihrem Wohnzimmer wuchert um Marmortisch und Sitzlandschaft ein psychedelischer Tapetendschungel. Ein Jurist zeigt sich in einem neobarock überladenen Interieur, in seinem verglasten Bücherschrank stehen Schnapsfläschchen vor den Bänden.

Desillusionierende Stadtbilder, meditative Landschaftsaufnahmen

Schmidts nüchterne Wedding-Aufnahmen sind in einem Raum zusammen mit Robert Adams’ Serie „The New West“ zu sehen, die von 1968 bis 1971 entstand. Eine alte Frau mit voller Einkaufstasche kürzt ihren Heimweg über eine Tankstelle ab, ein überfahrener Hase liegt an der Interstate 25 auf dem Asphalt, hinter dem Parkplatz eines Supermarktes ragen die Hochhäuser des Stadtzentrums von Denver auf. Straßen und Prärielandschaften mögen Freiheit versprechen, aber bei genauerem Hinschauen ist davon nicht mehr viel übrig. Auf einer umzäunten Wiese steht ein Bison, Inbegriff des Wilden Westens. Adams’ sarkastischer Bildtitel: „Bison zu verkaufen.“

Ähnlich desillusionierend wirken die Fotografien der Serie „Stadtbilder“, mit denen Ulrich Wüst zwischen 1979 und 1987 den Verfall historischer Bauten in der DDR dokumentierte. In Magdeburg hat der Bombenkrieg dort, wo einmal Häuserblöcke standen, nur Wiesen und dazwischen die alten Straßen und Laternen hinterlassen. „Aufbau“ steht ironischerweise auf einer Verkaufsbude mit zugeklappten Fensterläden am Rande einer Leipziger Plattenbausiedlung. Ein Plakat wirbt für eine Tombola, bei der es „1 PKW Trabant“ zu gewinnen gibt.

Gleich daneben verströmen die Landschaftsaufnahmen von John Gossage meditative Stille. Ein ausgetrockneter Bachlauf, ein Vogelschwarm am Himmel, der Schatten eines Laternenmastes auf einer Straße. Fotografie, die fast schon Land Art ist. „Gehen Sie näher an den Gegenstand ran“, so lautete eine Forderung, die Schmidt seinen Schülern stellte. Allerdings musste die Werkstatt schon 1986 wieder schließen, weil die Finanzierung wegbrach. Das Credo, dass man gute Fotos nicht aus der Distanz machen kann, könnte auch von Stephen Shore stammen. Seine schreiend bunten Bilder, die er in der amerikanischen Provinz aufnahm, taufte er „Uncommon Places“.

Atemberaubend gewöhnlich

Ungewöhnliche Orte also, obwohl sie doch eher atemberaubend gewöhnlich aussehen. Ein roter Hydrant an einer Straßenecke in Philadelphia, flackerndes Neonlicht auf einer Kinofassade irgendwo in Wisconsin. Und als Höhepunkt der Blick aufs eigene Frühstück in einem Restaurant in Utah: ein Stapel Pfannkuchen und eine aufgeschnittene Honigmelone.

250 Bilder versammelt die Ausstellung, sie dokumentieren eine staunenswerte Vielfalt. Thomas Florschuetz präsentiert Körperteile in radikalen Ausschnitten, Ursula Kelm inszeniert Seelenzustände, Gundula Schulze Eldowy zeigt DDR-Außenseiter. „Waffenruhe“ heißt eine Fotoserie von Michael Schmidt, die klarmacht, dass der Krieg jederzeit zurückkehren kann. Es müssen aufregende Zeiten in West-Berlin gewesen sein.

„Kreuzberg – Amerika“, C/O Berlin, bis 12. 2., tgl. 11–20 Uhr. Weitere Ausstellungen im Folkwang Museum Essen (bis 19.2.) und im Sprengel Museum Hannover (bis 19.3.)

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