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Kultur: Ein Aufklärer

Die Aufgabe war sicherlich unangenehm.Die Studenten sollten sich vorstellen, ein Untergebener von Adolf Eichmann zu sein und für ihn einen Bericht über Judentransporte schreiben.

Die Aufgabe war sicherlich unangenehm.Die Studenten sollten sich vorstellen, ein Untergebener von Adolf Eichmann zu sein und für ihn einen Bericht über Judentransporte schreiben.Zugegeben, eine merkwürdige Methode, seinen Schülern etwas über den Holocaust beizubringen.Doch Raul Hilberg ging es nicht um bloße Rollenspiele.Der inzwischen emeritierte Professor für Politik an der Universität Vermont wollte, daß sich die jungen Leute in die Rolle der Täter hineinversetzen.Sie sollten merken, daß die Nazis keine Bestien oder Maschinen waren, sondern Menschen, die andere Menschen töteten oder töten ließen.

Seit fünfzig Jahren beschäftigt Raul Hilberg die Frage, wie diese unvorstellbare Tötungsmaschinerie funktionieren konnte.Es gibt wohl kaum ein Dokument oder einen Aktenvermerk zu dem Thema, die der US-Historiker nicht kennt.Der 73jährige ist die wissenschaftliche Autorität, wenn es um die historische Aufarbeitung der Ermordung der europäischen Juden geht.Mit Fug und Recht wird er ein Holocaust-Forscher genannt.Heute abend erhält der Aufklärer aus Passion im Berliner Abgeordnetenhaus für sein Lebenswerk und sein mehr als 1300 Seiten umfassendes opus magnum "Die Vernichtung der europäischen Juden" (Fischer-Verlag) den Marion-Samuel-Preis.Die mit 25 000 Mark dotierte Auszeichnung verleiht die "Stiftung Erinnerung", die der ehemalige Textilunternehmer Walter Seinsch und seine Frau Ingrid vor drei Jahren gegründet haben.Benannt ist der Preis bewußt nach einem unbekannten Opfer der Shoah: Über das Mädchen Marion Samuel weiß man nur, daß es elfjährig am 3.März 1943 von Berlin nach Auschwitz deportiert wurde.

Es hätte nicht viel gefehlt, und Hilberg wäre es ähnlich ergangen wie Marion Samuel.1926 in Wien geboren, mußte er mit seinen Eltern 1939 vor den Nazis aus Österreich fliehen.Über Kuba emigrierte die Familie in die USA.Als Student begann sich Hilberg 1948 mit dem Holocaust auseinanderzusetzen.Damals wußte er nach eigenem Bekunden nicht, daß man "wenn man einmal damit anfängt, nicht mehr aufhören kann".Von seinen Forschungen nahm jedoch lange Zeit kaum jemand Notiz.In den Vereinigten Staaten war das Interesse an den Flüchtlingen aus Europa und ihrem Schicksal gering."Keiner wollte wissen, was Auschwitz war.Ich habe angefangen aus Opposition gegen die Öffentlichkeit." Kein Wunder, daß Hilberg seinen 1994 erschienen Lebenserinnerungen den Titel "Unerbetene Erinnerung" gab.

Trotz der Hindernisse erschien dann 1961 in Chicago sein Mammutwerk über die nationalsozialistische Mordapparatur.Dennoch blieb dem Forscher lange Zeit die verdiente Anerkennung vorenthalten.Die deutsche Übersetzung des einmaligen Kompendiums erschien sogar erst zwanzig Jahre später.Viele seiner Ergebnisse waren und sind unbequem.Die "Judenräte" etwa nannte er einen "verlängerten bürokratischen Apparat Deutschlands", der mit den Nazis kooperierte.Solche Einschätzungen hatten Folgen: Der Zutritt zu israelischen Archiven blieb Hilberg zeitweise verwehrt.

Seiner wissenschaftlichen Produktivität konnte das alles nichts anhaben.1992 erschien sein zweites großes Buch "Täter, Opfer, Zuschauer.Die Vernichtung der Juden 1933 bis 1945" (Fischer-Verlag), in dem es um das Handeln von einzelnen Menschen und vor allem um deren Nicht-Handeln geht.Doch wie schafft es einer, der einst selbst verfolgt wurde, sich sein ganzes Leben mit der grausigen Vergangenheit zu beschäftigen? Auf diese Frage hat Raul Hilberg einmal mit akademischer Nüchternheit geantwortet: "Das ist schwer zu sagen, vielleicht bin ich gefühllos."

CHRISTIAN BÖHME

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