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Kultur: Ein bisschen Picasso

Fit für den Markt? Im Frankfurter Städel wird Ernst Ludwig Kirchners Spätwerk neu bewertet

Mitten in den zielstrebig entfachten Wirbel um die Frankfurter Retrospektive von Ernst Ludwig Kirchner hinein gab das Kölner Museum Ludwig den Ankauf eines Spätwerks des Künstlers bekannt. Der Zeitpunkt war klug gewählt. Denn Kirchners Spätwerk aus seinen Jahren im selbstgewählten Exil der Schweizer Berge ab 1918 gilt als künstlerischer Rückschritt gegenüber der aufregenden Berliner Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Ungefähr ein Zehntel, so das Kölner Museum, habe der Preis für „Braune Figuren im Café“ von 1928/29 gegenüber einer Arbeit aus der „reifen“ expressionistischen Periode betragen. Dabei handelt es sich um immerhin 582 000 Euro; als Vergleich mag da der „Halbakt“ von 1910 gedient haben, den die Berner Galerie Henze & Ketterer während der Art Cologne 2008 für 5,5 Millionen Euro offerierte.

Gerade das Spätwerk will die Ausstellung im Frankfurter Städel-Museum aufwerten. Sie stellt die erste vollgültige Retrospektive seit der 1979/80 in der West-Berliner Nationalgalerie gestarteten Schau zum 100. Geburtstag des Künstlers dar. Angesichts der enormen Aufwertung, die Kirchners Werk erfahren hat und die ihren Höhepunkt in den 38 Millionen Dollar fand, die Großsammler Ronald S. Lauder im November 2006 bei Christie's für die vom Berliner Brücke-Museum an die jüdischen Erben restituierte „Straßenszene“ von 1913 bewilligte, ist die Vollständigkeit der damaligen Übersicht längst nicht mehr erreichbar. Das Städel, selbst im Besitz von 15 Gemälden, muss sich mit knapp 160 Katalognummern einschließlich der grafischen Arbeiten zufrieden geben, gegenüber mehr als 400 der Berliner Retrospektive vor 30 Jahren. Natürlich sind die schmerzlich vermissten Arbeiten Legion; kein Wunder angesichts eines Gesamtwerks von allein 1045 Gemälden. Gleichwohl gelingt dem Städel ein konziser Überblick. Doch um die neuerliche Ausbreitung des Wohlbekannten geht es Kurator Felix Krämer nicht, sondern vielmehr um die gleichberechtigte Einordnung des Spätwerks, das bislang meist als Appendix abgehandelt wurde.

Es ist nicht zu übersehen, dass sich in diesem Punkt kuratorische und händlerische Interessen treffen. Denn während die expressionistischen Arbeiten, von der Gründung der Künstlergemeinschaft Brücke 1905 über die Berliner Glanzzeit Kirchners bis zu seiner ersten, tastenden Neuorientierung gegen Ende des Krieges, längst zu den Marktraritäten zählen, bietet der Nachlass, den Kirchner zum Zeitpunkt seines Freitodes 1938 in einer Scheune zurückließ, noch etliche Gelegenheiten. Insbesondere Henze & Ketterer als Nachlassverwalter hält das Interesse an Kirchner stets wach; und sei es über einen Kirchner-Souvenirshop in der Berliner Fasanenstraße.

Ob das Kirchner gefallen hätte? Immerhin hat er im schnoddrigen Jargon der Zwischenkriegszeit 1924 gesagt, „die Fabrikmarke meiner Kunst ist E. L. Kirchner und nichts weiter“. Schon gar nicht wollte er mit den Brücke-Kollegen in einem Atemzug genannt werden, mit denen es 1913 zum Bruch kam, als Kirchner alle Leistungen der Künstlergemeinschaft kurzerhand für sich reklamierte. Kirchner war alles andere als ein umgänglicher Zeitgenosse. Er war misstrauisch und missgünstig, nicht erst seit seiner während des Krieges manifest gewordenen Morphinsucht, die er später in der Schweiz nur halbherzig überwand. Er wurde mit Hilfe eines Arztes rückfällig, es folgten die wahnhafte Furcht vor einem Einmarsch der Nazis in Davos und der Selbstmord im Juni 1938.

„In der Ausdeutung des modernen Lebens liegt für mich noch große reiche Möglichkeit und ich kann heute noch ganz anders dran gehen, reifer und ruhiger“, äußerte Kirchner in einem seiner zahlreichen Briefe, mit denen er sehr zielgerichtet Kontakt mit der Welt hielt. Deutlicher als je zuvor macht das die Frankfurter Retrospektive, unterstützt von einem dezidiert auf eine vermeintlich neue Sicht fokussierten Katalog, die Neuformulierung seiner künstlerischen Sprache, die Kirchner strategisch betrieb. Die Deutschlandreise 1925/26, die erste nach der krankheitsbedingten Übersiedlung in die Schweiz, nutzte Kirchner zur Sondierung seiner Möglichkeiten am Markt. Der mittlerweile 45-Jährige zögerte nicht, seinen Frankfurter Händler Manfred Schames zu verstoßen, dem er mangelnden Einsatz vorwarf, oder seinem Sammler Carl Hagemann ein geeigneteres Haus zu empfehlen, „aus einfachen Formen wie sie das Bauhaus Dessau macht". Hagemann, dies nebenbei, verdankt das Städel seinen glanzvollen Kirchner-Bestand.

Nach der Reise erprobte Kirchner seinen „neuen Stil“, der vor allem eines verriet: die genaue Kenntnis der europäischen Kunstszene und insbesondere Picassos. Doch Gemälde wie das Doppelporträt „Das Paar“ von 1934 mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling – über deren angeblich mangelnden Intellekt er sich häufig beklagte – wirken lediglich konstruiert und weit weg von jener drängenden Unmittelbarkeit, mit der Kirchner sich zuvor über alle malerischen Konventionen seiner Zeit hinwegsetzte.

Wenn die Frankfurter Ausstellung Anlass zu einer Neubewertung oder zumindest einer veränderten Gewichtung gibt, dann nicht hinsichtlich des Spätwerks, das im Übrigen weit gründlicher erforscht ist, als es die Ankündigungen glauben machen wollen. Sondern hinsichtlich jener Periode zwischen den Aufenthalten im Sanatorium im Taunus mit den damals geknüpften, für Kirchner äußerst fruchtbaren Kontakten in die Mainmetropole, und den ersten Jahren in der Schweiz, anfangs noch im Haus In den Lärchen und damit näher an Davos als im späteren Refugium auf dem Wildboden. Diese vier, fünf Jahre – nicht kürzer als die Berliner Hoch-Zeit, auf die sich die populäre Wahrnehmung Kirchners mittlerweile verengt hat – kommen in Frankfurt mit dem „Soldatenbad“ von 1915 aus dem New Yorker Guggenheim Museum oder der „Alpküche“ von 1918 aus Madrid vorzüglich zur Geltung; und das sogar, obwohl ein solches Spitzenwerk wie die „Wintermondlandschaft“ von 1919 (heute in Detroit) lediglich als Farbholzschnitt präsent ist – der, nebenbei, am Markt womöglich mehr einspielen würde als selbst ein Gemälde des „neuen Stils“ hernach. Spitzenstücke wie der Farbholzschnitt „Akt mit schwarzem Hut“ von 1912 taxieren inzwischen an der Millionengrenze.

Insgesamt zeigt die Frankfurter Ausstellung, was ein Museum mit exzellenten Kontakten und forciertem Selbstbewusstsein, allerdings auch der Fundierung im eigenen, gewichtigen Sammlungsbestand zustande bringen kann. Eine Neubewertung des Kirchnerschen Oeuvres ist nicht darunter. Sogar eher kontraproduktiv erwies sich die Einladung an ein paar handverlesene Kritiker von „FAZ“, „FAS2 und „Welt“ nach Davos, wo sie sich mit der These vom unterschätzten Spätwerk impfen ließen und dies höchst folgsam in ihre Berichte einbauten. Das Städel ist erkennbar seriöser als der Markt, der die Chance zur quasi-objektiven Unterfütterung seiner Interessen witterte. Und die Millionentaxen werden auch in Zukunft bei Kirchner, dem Expressionisten, bleiben. Mag sich der Künstler auch später in zahllosen Briefen gegen dieses Etikett gewehrt haben. Er wollte, wie er mehrfach betonte, lieber als deutscher Künstler gelten, wie er sich nach der Besichtigung eigener Werke im Städel bescheinigte: „Deutsch wie van Eyck, nur modern“.

Städel-Museum, Frankfurt/Main; bis 25. Juli. Katalog bei Hatje Cantz: 39,90 €.

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