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Kultur: Ein deutsches Geisterhaus

1500 Wissenschaftler auf 2200 Seiten: Was wir aus Christoph Königs umstrittenem Germanistenlexikon erfahren – und was nicht

„Fahrenheit 451“ heißt der utopische Roman von Ray Bradbury aus dem Jahr 1953, den Francois Truffaut 1962 verfilmt hat. Er handelt vom Verbrennen der Literatur im staatlichen Auftrag und setzt dagegen ein tröstliches Schlussbild: ein idyllischer Garten, in dem eine Gruppe Menschen umherwandelt, von denen jeder ein Buch auswendig gelernt hat und es nun einem Eleven mündlich vorträgt, damit dieser es weitertradiere.

Für das Verbrennen der Bücher sind Feuerwehrleute zuständig, einer von ihnen mit Namen Montag ist ein Abtrünniger, er flüchtet in die Kolonie der Büchermenschen.

Weil es (scheinbar) von solchen Fluchten erzählen lässt, hat Christoph Königs „Internationales Germanistenlexikon“ schon vor seinem Erscheinen viel Aufmerksamkeit erregt in den Medien. Allenthalben war die Rede von den angeblichen Nachfolgern Montags, von prominenten Büchermenschen, die bis heute verschwiegen haben, dass sie einmal Feuerwehrleute gewesen sind. Der „Spiegel“ suggerierte diesen Zusammenhang, indem er umstandslos die Fotos von Walter Höllerer, Peter Wapnewski und Walter Jens unter ein Foto von den NS-Bücherverbrennungen setzt. Autoren und Gelehrte wie Höllerer oder Jens hatten die Deutschen nach 1945 mit Autoren der deutschen und europäischen Moderne und Avantgarde wieder vertraut gemacht, deren Bücher 1933 verbrannt worden sind. Vor allem hatten sie Literaturwissenschaft niemals als Nationalphilologie verstanden. Aktenkundig scheint, dass sie als Zwanzigjährige der NSDAP als Parteimitglied angehörten. Davon gesprochen haben sie nie. Verständlich wäre das, aber nicht akzeptabel, weil das Recht des Vergessens nur die Freiheit der NS-Opfer ist.

NS-Germanisten waren Jens, Wapnewski und Höllerer nicht. Über 100 Namen zählt das Lexikon hier auf. Die unheilvolle Verstrickung des Faches in den Nationalsozialismus, die seit dem Münchner Germanistentag von 1966 analysiert wird, erscheint in einem biografischen Lexikon notwendig als eine persönliche Schuld, auch wenn dies nicht im Sinne des Herausgebers und der Verfasser der einzelnen Artikel ist.

Die Auflistung von lexikalischen Daten, die durch keine narrative Ordnung verbunden sind, überlässt die Interpretation notwendig dem Leser. Er ist frei, daraus eine Anklageschrift, eine Verteidigungsrede, eine Laudatio oder einen historischen Diskussionsbeitrag zu basteln. Gelegentlich lässt ihn das Lexikon, wenn er kein Eingeweihter ist, auch beim Nachdenken über Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Lebens- und Wissenschaftsgeschichte im Stich. Fritz Martini zum Beispiel trat, wie das Lexikon vermerkt, 1933 in die NSDAP ein, habilitierte über „Das Bauerntum im deutschen Schrifttum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert“ und wurde 1943 Professor an der TH Stuttgart. Er blieb auf seiner Stelle nach dem Ende der Naziherrschaft. Von seinem Engagement für die große jüdische Germanistin Käte Hamburger, der er 1957 die Habilitation und die Anstellung an der TH Stuttgart und damit die Rückkehr aus dem schwedischen Exil ermöglichte, erfährt man im Artikel „Martini“ nichts – und im Artikel „Hamburger“ findet man hinter der bibliografischen Auflistung der Habilitation über „Die Logik der Dichtung“ und der Venia legendi in Klammern nur den Hinweis „mit Unterstützung Fritz Martinis“.

Stellenlektüre, „Blümeln“, wie man das abschätzig im18. Jahrhundert nannte, genügt in Martinis Fall nicht. Aber liest man ein Lexikon anders? König fordert in seinem umsichtigen Vorwort den „kritischen Leser“. Also haftet dieser letztlich für die Zuweisung von Huld und Schuld. Das kann er nur, wenn er die Quellen selbst einsieht, die der bibliografische Apparat erstmals in dieser Vollständigkeit aufführt. Das ist ein Hauptverdienst des Lexikons. Und dennoch: Nötig wäre auch der kritische Redakteur, der den Verfassern biografischer Artikel selbst das „Blümeln“ verbietet. Denn wie viel und was muss ich wissen, um die Wirksamkeit eines Germanisten für sein Fach und den Rang seines Werkes zu verstehen? Sicher nicht, dass er zwei- oder dreimal verheiratet war. Ist es nötig, dass ich unter dem fett gedruckten Stichwort Ehe im Falle eines jüdischen Exilgermanisten in Klammern finde „(seit den frühen 1930er Jahren liiert mit Dieter Cuntz)“ und im Anschluss daran die Auflistung eines Eichendorff-Buches mit Titel und „Widmung: Für Dieter Cuntz“? Wir leben im Zeitalter der Indiskretion; gegenwärtig lehrende Germanisten haben aber bei der Aufnahme in biografische Lexika zumindest das Recht, über ihre Einträge selbst zu bestimmen. Man stelle sich eine Germanisten-Enzyklopädie vor, die die Parteizugehörigkeit und das Geschlechtsleben der aktuellen Lehrstuhlinhaber ähnlich ungeniert auflistete.

Gelehrtenlexika taugen nicht für Steckbriefe, sie sind seit jeher als Rüstsaal gedacht. 12000 Germanisten aus den Jahren 1800 bis 1950 haben König und seine Mitarbeiter akribisch recherchiert und daraus dann einen Kanon von 1500 Personen gebildet. Ausgespart bleibt notwendig, wer nicht weiter veröffentlichen und sich keinen Namen als Germanist mehr bei der Nachwelt machen konnte. Hans Karl Rosenberg etwa promoviert mit einer Arbeit über Justus Möser, Ende der 20er Jahre Professor an der Pädagogischen Akademie in Bonn, zwangspensioniert von den Nazis wegen seines jüdischen Vaters und 1942, seelisch zerbrochen, gestorben. Oder Edith Stein, die bei Husserl promovierte, 1933 ihre Dozentur in Münster verlor und 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz eingeliefert wurde.

Die Frage ist, ob prominente Außenseiter, denen die Zugehörigkeit zu einer universitären Institution zu Lebzeiten verweigert wurde, mit der posthumen Aufnahme in die Zunft qua Lexikoneintrag überhaupt einverstanden wären. Das vermehrt eher die Reputation der Zunft als ihre eigene – was bei der ausführlichen Würdigung Walter Benjamins unmittelbar einsichtig ist.

Um die Steigerung des symbolischen Kapitals der Germanistik geht es also auch in diesem Lexikon. Der Aufstieg der Wissenschaftsgeschichte als Forschungsgegenstand der Germanistik hängt mit der Krise eines Faches zusammen, das seit zwei Jahrzehnten trotz unbestritten großer wissenschaftlicher Leistungen und permanenter Reformanstrengungen vergeblich um öffentliche Anerkennung in- und außerhalb der Universitäten ringt und seine Legitimation häufig nur als Ausbildungsfach für die Schule attestiert bekommt. Dass nun so viel mediale Aufmerksamkeit mit den Lebensläufen von Germanisten gewonnen werden kann, ist ein Glücksfall – und ein Kuriosum zugleich: Schließlich zweifelt die Literaturwissenschaft seit langem die Autorität von Autoren an und hält das Verfassen von Biografien eher für ein unwissenschaftlich-literarisches Geschäft!

Dem „Internationalen Germanistenlexikon“ ging eine „Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts“ voraus (2000 bei de Gruyter), für die ebenfalls Christoph König zusammen mit Hans-Harald Müller und Werner Röcke als Herausgeber verantwortlich zeichnet. Das Vorwort weist der Wissenschaftsgeschichte „Orientierungsfunktion“ für die aktuellen Diskussionen zu. Von einer „Innovationskrise“ als Kennzeichen der Gegenwart wird hier gesprochen, als wünschte man sich einen zeitweiligen Stillstand im Fortschritt oder träumte vom Rückzug in Bradburys Kolonie der Büchermenschen, die geduldige Zuhörer finden, weil sie die Bücher nur vortragen, statt auf immer neue Weise zu deuten. Jeder Literaturhistoriker, der derzeit in öffentlichen Vorlesungen im Zuge des Studentenstreiks in Berlin für den Erhalt seines Faches kämpft, weiß, dass es publikumswirksamer wäre, wie Elke Heidenreich von Literatur zu schwärmen, als aufs Genaueste die Architektur eines Textes zu beschreiben.

Der Rückblick in die Fachgeschichte lehrt freilich, dass die Einheit der Germanistik immer ein Konstrukt war und die Pluralität der methodischen Überlegungen über deutsche Sprache und Literatur kein postmodernes Phänomen ist. Die Historie kann, wie Nietzsche es in einem Aphorismus formuliert hat, durchaus eine „Cur der Geister“ sein. Dann gilt es für Germanisten, sich an wissenschaftliche Werke zu halten, die schon in der Vergangenheit gezeigt haben, wie man die Faszination von Literatur erhält.

Königs Lexikon könnte durch seinen gewaltigen bibliografischen Apparat bei der Suche nach solchen Originaldokumenten helfen. Detektivische Arbeit in diesem Sinne unternimmt auch ein schon 1999 von Bernhard Dotzler bei Böhlau in Köln herausgegebener Band mit dem zutreffenden Titel „Grundlagen der Literaturwissenschaft“. Er versammelt „exemplarische Texte“, in der Überzeugung, dass es keine bessere Art zu lernen gibt als am gelungenen Vorbild: an Texten, deren Ergebnisse man „ignorieren, aber nicht leugnen“ kann. Als Literaturhistoriker weiß man, dass nur zu gut, wie Recht Goethe mit der Einsicht hatte: „Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken.“

Der Autor lehrt deutsche Sprache und Literatur an der Universität Köln und ist Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft.

„Internationales Germanistenlexikon 1800 bis 1950“, Hrsg. Christoph König. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/New York 2003, 3 Bd., 2200 Seiten und eine CD-ROM, 498 € (ab 1. Februar 578 €).

Günter Blamberger

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