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Kultur: Ein Flaneur am Rande der Rätsel

Von Ralph Eue Er macht immer noch, selbst mit vierundsiebzig Jahren, den Eindruck eines unendlich jungen Mannes. Das ist keine Angelegenheit von Facelifting oder Forever-Young-Ideologie als vielmehr von Spielfreude, Geistesgegenwart und einer entspannten Wachheit.

Von Ralph Eue

Er macht immer noch, selbst mit vierundsiebzig Jahren, den Eindruck eines unendlich jungen Mannes. Das ist keine Angelegenheit von Facelifting oder Forever-Young-Ideologie als vielmehr von Spielfreude, Geistesgegenwart und einer entspannten Wachheit. Insofern geht Jacques Rivette ganz und gar in seinen Filmen auf, obwohl sich aus diesen, so formuliert er es selbst, in einem gegen null gehenden Ausmaß biografische Rückschlüsse auf ihren Urheber ziehen lassen. Er macht die leichtesten aller schwierigen Filme. Arbeiten eines Flaneurs, die aus einer spezifischen Wahrnehmungskraft und Aufnahmebereitschaft schöpfen.

Häufig geht es bei Rivette ums Theater oder um Theatergruppen - ohne dass man je auf die Idee käme, seine Filme theatralisch zu nennen - , und so gut wie immer sind sie überlang. Unnachahmlich schöpft der Autor dabei aus „diagonalen Kenntnissen“, die ihn Zeit seines Lebens imprägniert haben: ausgedehnte Zeitungslektüre zum Beispiel oder eine nie abgerissene Cinephilie und dazu ein unstillbarer kultureller Hunger - Truffaut sagte einmal über Rivette: „Sein Wissen erhellt unsere Lücken. Aber all das nimmt ihm nichts von seiner Rätselhaftigkeit.“ Das war Mitte der fünfziger Jahre, als die beiden unzertrennliche Freunde waren und gern als „Truffette und Rivaut“ verulkt wurden.

Auch Rivettes neuester Film „Va Savoir“ ist Ausdruck einer „gierigen Kontemplation“ unterschiedlicher Repräsentationsformen des Lebens, gepaart mit einem Geschmack fürs Fantastische. Reale Straßen machen einen gleichwohl verwunschenen Eindruck, und mitunter meint man, dass es noch eine andere Wirklichkeit hinter dem Zweckmäßigen oder Naheliegenden geben müsse, so dass es durchaus nahe liegend erscheint, dass die Treppen des eigenen Wohnhauses zuweilen auch in ein Dornröschenschloss führen können. Rivettes Figuren sind Fußgänger - wie er selbst. Ihre Gangart ist ebenso graziös tänzelnd wie schlafwandlerisch elegant – und doch oft ungelenk. Schillernde Besitzer der Stadt sind sie und doch Fremdkörper darin. „Paris gehört uns“ (1959/61) hieß sein erster Film. Der programmatische Titel hat kein Fragezeichen, und doch kommt man nicht umhin, dieses ständig mitzudenken.

Rivette ist für seine Filme unweigerlich von bestimmten Schauspielern ausgegangen. Ohne sie wären sie gar nicht oder wenigstens völlig anders. Die körperliche Präsenz dieser Schauspieler war ihm das Wichtigste. Gleich ob „Céline und Julie fahren Boot“ (1973) mit Juliette Berto und Dominique Labourier oder „Le Pont du Nord“ (1980) mit Bulle Ogier und Pascale Ogier oder „Die schöne Querulantin“ (1990) mit Emmanuelle Béart und Michel Piccoli - all seine neunzehn Spielfilme sind auch Dokumente der „chemischen Reaktion“ seiner DarstellerInnen mit der Idee und dem Stoff einzelner Filme, und Jeanne Balibar, die Hauptdarstellerin in „Va Savoir“, hat sich diese Geschichte einer Actrice, die nach drei Jahren Abwesenheit aus Frankreich mit dem Gefühl der „Unbehaustheit“ in der eigenen Sprache und der eigenen Stadt dorthin zurückkehrt, regelrecht einverleibt.

Um den Prozess der Erarbeitung seiner Filme zu beschreiben, greift Rivette gern zum Begriff der „Bricolage“, der Bastelei mit Dingen von rechts und links des Wegs: „Eine Welt liegt zwischen der Absicht und dem endgültigen Resultat. Ein Drehbuch ist für mich nur ein Werkzeug, das man verändert je näher man dem Ziel kommt, das sich seinerseits nicht ändern darf. Oft trägt man als Autor dieses Ziel in sich, ohne es zu wissen; allerdings ohne solch ein Ziel bleibt jegliches Resultat oberflächlich. Man entdeckt die Charaktere, indem man sie sprechen lässt, ihre Umwelt, indem die Drehorte zusammenkommen. Die innere Haltung tritt einem selbst erst mit der Zeit in Erscheinung und oft erst in der Zusammenarbeit mit den Technikern, den Schauspielern, dem ganzen ’Bestiarium’ eines Films: Wir müssen dem unabänderlichen Gesetz des Wesens gehorchen, das sich erst in dem Maß offenbart, in dem der Gegenstand zu leben beginnt.“ Dieser Gedanke ist, wie Rivette sagt, Jean Renoir nachempfunden, über den er 1966 auch einen der schönsten Porträtfilme gemacht hat, den je ein Filmemacher über einen anderen gemacht hat: „Jean Renoir, le Patron." Worum es in „Va Savoir“ geht: Eine italienische Theatergruppe macht im Rahmen einer Europatournee mit einem Stück von Pirandello für einige Tage in Paris Station. Camille (Jeanne Balibar), die die Hauptrolle in diesem Stück spielt, ist zugleich die Geliebte des Regisseurs Ugo (Sergio Castellito). Sie ist die einzige Französin in der Truppe. Camille ist zum ersten Mal wieder in Paris, nachdem sie vor Jahren den Philosophen Pierre (Jacques Bonnaff), ihren damaligen Liebhaber, Hals über Kopf verlassen hat. Sie fürchtet sich davor, ihn wieder zu sehen und sucht ihn dennoch, trifft aber zuerst auf dessen neue Lebensgefährtin Sonia (Marianne Basler), bevor ihr deutlich wird, dass ihre Geschichte für sie noch lange nicht abgeschlossen ist.

Ugo aber verfolgt ebenfalls Ziele, von denen Camille nichts weiß: Er nutzt seinen Aufenthalt in Paris dazu, um ein unveröffentlichtes Manuskript von Goldoni zu finden, und diese Suche führt ihn in die Arme der jugendlich-aufgeregten Dominique (Hélène de Fougerolles), die mit ihrem Halbbruder Arthur (Bruno Todeschini) ein reichlich zwielichtiges Verhältnis hat.

Der umwirbt auch Sonia, die er um einen kostbaren Ring bringen will. Sonia allerdings verbündet sich, allen Rivalitäten und Unverträglichkeiten zum Trotz, mit Camille, die Arthur den Kopf verdreht und ihm den Ring wieder abspenstig macht. Am Schluss, nach einem slapstickhaften Wodka-Duell zwischen Ugo und Pierre sowie dem wunderbaren Auffinden des Goldoni Manuskripts durch Dominiques Mutter, treffen alle Akteure in einem großen Tutti im Theater zusammen, und der Vorhang des Films fällt ...

Sand im Getriebe der zerebralen Mechanik dieses Reigens sind die beiden „Wander-Objekte“ des Films: das Goldoni-Manuskript und der gestohlene Ring.

Beide sind Störfaktoren im Strom der romantischen Begierden, und die Suche nach ihnen führt buchstäblich und unverblümt zum „Fressen“ statt zur „Moral“ - der gestohlene Ring ist in einem Topf mit Mehl versteckt, das verschollene Manuskript findet sich in einem Regal zwischen Kochbüchern. Das wahrhaft Fantastische an Rivettes Filmen ist die Mühelosigkeit, mit der sie ihren Ort finden: zwischen Materialismus und Idealismus, Gefühl und Verstand, Wirklichkeit und Magie.

Was sein Kino seit jeher gekennzeichnet hat, ist das immer wieder erneute Herantasten an das eigentliche Wunder des Films: „Ich strebe an“, so erklärte er einmal, „dass den Zuschauer der Eindruck eines permanent gestörten Gleichgewichts beschleicht, ähnlich dem meiner Figuren, die sich zwar einem vorgezeichneten Weg anvertrauen können und doch mit absoluter Freiheit ihren nächsten Schritt wählen." Vertrauen und Freiheit, das ist die künstlerische Moral, aus der Rivettes Filme gemacht sind.

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