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Kultur: Ein Gruppenheim

Die Schauspielerin Anne Tismer eröffnet in Berlin ein eigenes Theater – das Ballhaus Ost

Die große Saaltür mit dem rostigen Riegel öffnet sich zum Friedhof. Schiefe alte Grabsteine, beerdigt wird hier keiner mehr, im Schneematsch spielen Kinder. Ein Prenzlauer-Berg-Idyll. Man kann sich das schön vorstellen: Wie die Besucher, wenn es wieder wärmer wird nach dem langen Berliner Winter, in der Theaterpause mit Bierflaschen und Zigaretten herumstehen und schlendern.

Auch drinnen in dem ehemaligen Gemeindesaal, der sich jetzt Ballhaus Ost nennt, weht einen Romantik an. Handwerker, Schauspieler, Bühnentechniker wuseln im Halbdunkel. Im ersten Stock, wo die Büros sind, liegen neben den Laptops Matratzen und Reisetaschen. Ein Theater wird aus der Taufe gehoben. Das hat immer etwas Magisches. Und ist immer eine Zangengeburt. Mit vielen Müttern und Vätern. Hier sind es drei: Uwe Moritz Eichler und Philipp Reuter, zwei junge Schauspieler und Regisseure, und Anne Tismer. Man kennt sich aus Bochum, vom Schauspielhaus. Ja, sie: die „Nora“ der Schaubühne. Sie macht sich selbstständig. Am 16. Februar ist die Eröffnung, Anne Tismer spielt „Die Ehe der Maria Braun“, nach dem Film von Fassbinder. Eichler und Reuter führen Regie. Auch die nächste Premiere bleibt in der Familie: „Don’t Cry for Me, Adolf Hitler“, ein Nazi-Musical von Eichler und Reuter. Und dann ein Punk-Tanzstück.

Eine neue Off-Bühne in Berlin? Projekte kommen und gehen, ehe man sich versieht. Dies hier wirkt ein paar Nummern größer, ambitionierter, auch verrückter als der Off-Alltag. Und wenn eine der ungewöhnlichsten Schauspielerinnen der Hauptstadt, ja des deutschsprachigen Theaters ihren eigenen – und mit 180 Plätzen gar nicht so kleinen – Spielraum eröffnet, dann liegt ein Geheimnis darin. Weil Anne Tismer auf der Bühne immer ein Geheimnis bewahrt. Sie spielt Träume, Alpträume, mit Kleist’scher Klarheit.

Anne Tismer winkt zart ab. Aus der Schaubühne geflohen? Ach wo, sagt sie. Und doch liegt es nahe. Die Sache mit dem „Puppenheim“. Premiere war im November 2002, und seither feiert Thomas Ostermeiers Ibsen-Inszenierung weltweit Triumphe. Ein erstklassiger Berliner Kulturexport, ein Kultstück am Lehniner Platz. Nora, immer wieder Nora. Die Schaubühne arbeitet, nicht erst seit der Trennung von Sasha Waltz und ihrem Tanztheater, am finanziellen Limit. Tourneen bringen Geld, kleinere, experimentellere Produktionen werden gestrichen. Bei „Nora“ ist das große Puppenhaus am Lehniner Platz immer voll. Hat man Anne Tismer zu stark mit der Rolle identifiziert? Ach nein, das findet sie nicht: „Jede Rolle, die man spielt, ist irgendwie prägend.“ Sie sagt das nicht kokett. Wie war es, mit Thomas Ostermeier zu arbeiten, was ist seine Besonderheit als Regisseur? Ausweichende Antwort: Auch Jürgen Kruse war wichtig für sie, seit Freiburger Zeiten.

Es ist wohl einfach so, wie sie sagt. Nämlich überhaupt nicht einfach. Etwas Neues beginnt. Anne Tismer macht nicht viel Aufhebens um ihre Schaubühnenzeit. Auch Nora, die Kunstfigur, bricht aus: bei Ostermeier und Tismer sogar gewaltsam, sie erschießt ihren dämlichen Gatten. Eine Lara-Croft-Figur von 42 Jahren. Hätte Anne Tismer gern die Hedda Gabler gespielt, wieder einen Ibsen in der Regie von Ostermeier, der die Rolle dann mit der großartigen Katharina Schüttler besetzte? Auch wenn Anne Tismer das so nicht sagt – man merkt schon, dass sie nicht über „Nora“ und das Schaubühnen-Heim sprechen möchte. Sie hat andere Sachen im Kopf. Proben im Ballsaal, in einem Bühnenbild zu ebener Erde, das aus ein paar zerschlissenen Möbeln besteht. Sie hat immer schon, wie sie es nennt, gern interdisziplinär gearbeitet, und auch im Off-Bereich.

Betritt man das Ballhaus von der Straßenseite, steht man in einer Ladengalerie. Restauration, Bar und Theater liegen im hinteren Teil. Die Galerie hat schon geöffnet. An den Wänden Bilder von Anne Tismer und Bianca Schönig, die Frauen haben sich gegenseitig portraitiert. Es läuft ein Video, das sie bei Ikea gedreht haben, in der Betten- und Büroabteilung. „Wir gehen gern an kapitalistische Orte“, sagt Anne Tismer, sie will auch Stücke schreiben für ihre Factory, die sich selbst finanzieren muss. Fans und Freunden werden Aktien angeboten, ab 250 Euro.

Das Ballhaus Ost ist für private Parties zu mieten, ein Gastronom will mit einem flexiblen Konzept die wirtschaftliche Grundlage schaffen für den Traum vom kollektiven Glück. Das beginnt erst einmal mit extremer Selbstausbeutung: auch eine Form der Freiheit. Sich den Käfig selbst bauen. Ein wenig erinnert das Ballhaus an den Volksbühnen-Prater in der Kastanienallee und an die legendäre Baracke des Deutschen Theaters, wo Thomas Ostermeiers Karriere begann. Doch Anne Tismer und ihre Freunde haben kein Senatsgeld, kein Staatstheater im Rücken. Auch keines am Hals.

Zu groß die Versuchung, Anne Tismer über ihre Rollen zu verstehen. Wieder ein Frauenschicksal, eine Fatalität. Maria Braun liebt ihren Mann, was tut sie nicht für ihn. Sie stellt sich gegen die Zeit, Nachkriegszeit in Deutschland. Nora, eine Vorkämpferin, kann nur etwas beenden. Maria Braun, im Film, auf dem Theater jetzt, fängt immer wieder von vorne an.

Pappelallee 15, Prenzlauer Berg. Eröffnung mit „Die Ehe der Maria Braun“, 16., 17., 19. 2. Info: www.ballhausost.de

Rüdiger Schaper

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