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Kultur: Ein Hass ohne Boden

Triumph der Rache: Nina Hoss spielt die „Medea“ am Deutschen Theater Berlin

Man sieht noch nicht viel, aber das tonnenschwere Gewicht der Vorgeschichte staut sich schon im Raum, und die Luft ist gesättigt vom drohenden Unheil, als Christine Schorn an die Rampe tritt und als Amme berichtet, was bisher geschah. Unbewegt, die Stimme eng, die Schultern angezogen. Der Grieche Jason also reiste nach Kolchis, um das Goldene Vlies zu holen. Medea, die Kolcherin mit Zauberkräften, sah Jason und liebte ihn sofort. Sie half ihm beim Raub, verriet dafür nicht nur ihre eigene Familie, sondern ließ auch ihren Bruder zerstückeln und warf ihn ins Meer, um auf der Flucht die Verfolgerschiffe abzuhängen.

Jetzt leben Jason und Medea, die inzwischen zwei Kinder haben, in Korinth. „Doch nun ist alles aus, die Liebe kalt.“ Medea tobt: Jason betrügt sie mit der Prinzessin und will sie verlassen. Dann macht die Schorn eine lange Pause, als müsse sie für das Kommende Anlauf nehmen. Und in dieser Pause passiert etwas: Irgendeine Falltür öffnet sich zu geheimnisvollen Tiefen in ihrem Körper. Und aus dieser Tiefe steigt der Satz, „Sie ist unheimlich“. Mehr geströmt als gesprochen: Sie ist unheimlich. Es ist der Satz des Abends.

Erst jetzt darf das gleißende Licht angehen, und man sieht das großartige Bühnenbild von Bettina Meyer. Ein leerer weißer Raum, eingefasst von einschüchternd hohen Wänden. In diesen Kubus hat Meyer einen zweiten kleinen Wohnwürfel hineingezaubert, der anderthalb Meter über dem Boden schwebt und ein schäbiges Apartment beherbergt. Eine Bettcouch, Stuhl mit Fernseher, Küchenzeile mit angesengten Schränken. Die Decke ist zu niedrig, um sich auszustrecken, der Boden zu abschüssig, um Halt zu finden.

In dieser Höhle kauert, mehr in die Wand hineingegossen als an ihr lehnend, ein langhaariges Wesen der Nacht – strähniges Haar und Kleid schwarz wie die verschmierte Wimperntusche: eine Mischung aus Gruftie und Klageweib. Dabei weiß sie das Schlimmste noch nicht. Gleich kommt König Kreon (Christian Grashof) und will sie des Landes verweisen, was einen der schrecklichsten Racheakte der Literaturgeschichte auslöst. Medea bringt nicht nur Kreon und dessen Tochter, die neue Frau ihres Mannes, um. Sie tötet auch ihre beiden Kinder.

Kann man so etwas erzählen? Also glaubhaft machen, wie aus einer Betrogenen die Mörderin der eigenen Brut wird? Eher nicht. Das Stück des Euripides war bei seiner Uraufführung im Jahr 431 v. Chr. ein Skandal. Der Vorwurf bezog sich auf die Individualisierung der Figur, die Entthronung der Götter und den realistisch anmutenden Kontext der Geschichte. Seitdem beißen sich die Künstler, vom Lustschauder erfüllt, an dem Stoff die Zähne aus, von Seneca, Grillparzer über Heiner Müller bis Christa Wolf. Und Dutzende von Off-Theaterschauspielerinnen sind im schwarzen Loch des Stückes mit Haut und Haar verschwunden, schreiend vor Leid und Erregung, glühend vor Pathos. Denn das Unerhörte des Stückes bleibt unerklärbar.

Auch die Inszenierung von Barbara Frey, mit der am Deutschen Theater nach Thalheimers „Orestie“ und Gotscheffs „Perser“ die Antikenserie erst einmal schließt, muss sich in diesem einen Punkt bescheiden. In der Passage, in der Medea die Taten beschließt, wirft sie den Kopf hin und her und brüllt, als würde sie sich in einen Werwolf verwandeln. Es bleibt einer der wenigen äußerlichen Regietricks einer ansonsten wohltuend zurückhaltenden und innerlich bleibenden Regie. Frey gelingt das Kunststück, die Geschichte intim und psychologisch als Ehedrama zu erzählen und im Hintergrund das Dröhnen einer archaischen Gewalt spürbar zu machen, wo in jedem Augenblick alles passieren kann. Amme, Bote, Erzieher – die kleineren Rollen sprechen den von Hubert Ortkemper wunderbar plastisch und einfach neu übersetzten Text scheinbar regungslos, mit ungeheuerlicher Untergrundspannung. Famos, wie Matthias Bundschuh als Bote vom Todeskampf der Vergifteten berichtet und durch kleinste Modulationen oder kurzes Stocken die Szenerie so gegenwärtig macht, dass man glaubt, den Atem der Verendenden zu hören.

Ausbrechende Emotionen sind nur den zentralen Figuren gestattet, Medea und Jason, den Michael Neuenschwander als übertrieben schmierigen Schwächling gibt. Nina Hoss ist diese Medea, und sie ist ein Ereignis. Obwohl ihr keifendes Wüten in den ersten Minuten die schlimmsten Befürchtungen aufkommen lässt. Doch spätestens als sie Kreon anfleht, ihre Verbannung zumindest für einen Tag aufzuschieben, und es zwischen Hoss und Grashof zu einem kurzen Moment der Nähe kommt, wird zum ersten Mal die Zerbrechlichkeit der Figur deutlich, die später selbst noch in den grausigsten Momenten und durch die schlimmsten Jason-Beschimpfungen („du lächerlicher kleiner Wicht“ – als Jason ihr Geld anbietet) hindurchschimmert.

Rache aus verletzter Liebe. Bei Nina Hoss wird die Liebe groß-, die Rache eher kleingeschrieben. Rührend die Szene, in der sie mit Ägeus (wunderbar still: Horst Lebinsky) einen Asylvertrag für später schließt und dabei aufrichtig und mit dem Herzen einer Mutter seinen Klagen über Kinderlosigkeit lauscht: Da sie auch Zauberin ist, soll das seine Sorge nicht sein, sobald er ihr Aufenthalt in Athen zusichert!

Während sich alle anderen auf der Bühne bewegen oder auf dem Fahrrad ihre Runden drehen, bleibt Medea in der schwebenden Box gefangen, bis auf zwei Besuche Jasons allein mit dem Mobiliar der Trostlosigkeit. Die Box soll wohl tatsächlich in einem Athener Vorort von heute liegen, denn an der Wand hängt ein Kalender mit Fotos von Santorin, und als einmal der Fernseher angeht, hört man griechische Werbespots – der zweite überflüssige Einfall, der ob der Kraft und des psychologischen Reichtums dieses Abends nicht weiter ins Gewicht fällt.

Wie Nina Hoss mit einem Lidschlag zwischen Wut und Trauer wechselt oder, als vom Tod ihrer Kontrahentin die Rede ist, selbst zu Boden sinkt, als würde nicht nur der Körper der Prinzessin, sondern auch ihr eigener mit dem in Flammen stehenden Kleid verschmelzen. Wie hasserfüllt sie gucken kann, um im nächsten Moment Jason ein letztes Mal um den Hals zu fallen. Nina Hoss spielt nicht eine, sondern drei oder vier Medeas, deren Konturen wie von Zauberhand fließend ineinander übergehen. Nur eine Medea steht unverbunden neben den anderen: die der kalte Vollstreckerin. Erst am Ende kommt sie aus ihrer Wohnhölle in den weißen Raum hinab, steht kühl und unnahbar neben Jason, der schwitzend zu ihr aufschaut. Aus einer verletzten Frau ist der Mythos der Rache geworden.

Wieder am 2., 3. und 12. Dezember.

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