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Christine Ostermayer (links) und Lola Dockhorn in "Nebenwege".

© farbfilm verleih

Die Alten erobern das Kino: Ein Platz im Silbersee

40+, 50+, 60+: Immer reifere Zuschauerjahrgänge drängen in die Kinos. Und sie gucken dort neue Spielfilm-Subgenres – etwa Alzheimer-Komödien. Ein Blick auf „Nebenwege“, die zu neuen Trends werden.

Es ist noch nicht lange her, da galt das Kino in Deutschland vor allem als Freizeitvergnügen von Teenies und Twentysomethings. Doch die medialen Verschiebungen und das veränderte Ausgehverhalten der jungen Generation zeitigen auch hier ihre Folgen. Ein paar signifikante Zahlen: Von 50 auf 41 Prozent ist laut den jüngsten Marktforschungsdaten der Filmförderungsanstalt (FFA) der Anteil der an diese Zielgruppe verkauften Tickets gefallen – und das in nur sechs Jahren. Im selben Zeitraum, von 2008 bis 2013, legte die Generation 40+ beim Ticketkauf um exakt jene neun Prozent (auf 42 Prozent) zu, fein säuberlich um je drei Prozent pro Altersjahrzehnt bis zu den knapp Siebzigjährigen.

Mehr als vier von zehn Kinobesuchern also gehören heute zu den gereifteren Jahrgängen – und das spiegelt sich im Programm, wo abseits von "Fack ju Göhte“ und „Scary Movie 5“ das Segment von Filmen für Erwachsene mit entsprechend erwachsenen Themen wächst. Neben Literatur- und Naturaffinem kommt dabei zunehmend das Alter selbst samt seinen unschönen Nebenwirkungen wie körperlichem Verfall und Krankheit in den Blick – ein Sujet, für das Michael Haneke mit seinem Spätliebes- und auch Sterbebegleitungsfilm „Amour“ die wohl eindrücklichste Form gefunden hat. Auch Andreas Dresen konzentrierte sich zuletzt auf diese Thematik – und erzählt, nach dem Sex im Alter in „Wolke 9“ (2008), in „Halt auf freier Strecke“(2011), wie die tödliche Krankheit des Vaters eine Familie aufmischt.

Gegen den Oberflächenglanz

Dabei ist die Hinfälligkeit der Körper für Filmemacher wie Haneke und Dresen auch der Versuch, den Oberflächenglanz üblicher Plot- und Schönheitskonventionen mit den oft brüchigen Wahrheiten gelebten Lebens zu konfrontieren. Dass derlei keineswegs nur für die zweite Hälfte des Lebens gilt, zeigt auch der aktuelle Erfolg von Josh Boones Jugendfilm „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“. Die Verfilmung eines US-Bestsellers um die Liebesgeschichte zweier krebskranker Jugendlicher führt seit drei Wochen die deutschen Kinocharts an.

Ein Spezialfall der Hinfälligkeit ist die Krankheit Alzheimer. Nach Selbstzeugnissen prominenter Betroffener seit den 1990er Jahren wurde sie verstärkt in der Öffentlichkeit diskutiert und begann, neben der literarischen zunehmend auch die filmische Fantasie zu beschäftigen. Dabei orientierten sich die ersten Annäherungen auffallend an realen Schicksalen: Eine der frühesten – und hierzulande auch bekanntesten – war „Iris“ (2001) von Richard Eyre: Mit Judi Dench und Kate Winslet in der Hauptrolle, nahm er die Alzheimer-Erkrankung der Schriftstellerin Iris Murdoch zur Vorlage und richtete beispielhaft seine Empathie auch auf die aufopfernde Pflege durch Ehemann John Bayley.

Zahlreiche Dramen zum Thema folgten, wobei wohl auch die Angst vor dem Verlust auktorial-schöpferischer Souveränität durch den drohenden geistigen Verfall bei den Kreativen selbst mitschwingt. Nick Cassavetes’ „Wie ein einziger Tag" (2004) gehört hierzu, ebenso zuletzt Nikolaus Leytners Fernsehspiel „Die Auslöschung“ mit Martina Gedeck und Klaus Maria Brandauer.

Dokus über Alzheimer

Es war ein Dokumentarfilm, der 2012 neue Akzente setzte: In „Vergiss mein nicht“ begleitet der Regisseur David Sieveking die letzten Jahre seiner demenzkranken Mutter und spielt als Filmemacher und Teilzeit-Pfleger eine Doppelrolle. Das hätte peinlich werden können – aber der Regisseur stellt sich imponierend kühn und offen dem prekären Alltag mit der Mutter und entdeckt zudem ungeahnte und verstörende Dimensionen ihrer persönlich-politischen Vergangenheit. Ein praller Familienroman tut sich auf, aber auch eine mitreißende Komödie: Die dokumentarische Beobachtung lässt erstmals auch den Blick auf komische Momente des Persönlichkeitsverlustes zu, wie sie sich ein externer Drehbuchautor wohl kaum auszudenken wagen würde.

Im vergangenen Frühjahr fanden sich – mit Marcel Gislers „Rosie“ – diese Perspektive und Haltung im Spielfilm wieder: Erneut rückt ein Sohn seine altersdemente Heldin ins Zentrum einer autobiografisch inspirierten Familiengeschichte und reizt auch das komödiantische Potenzial des Stoffs gelungen aus. Auch Michael Ammanns Spielfilm „Nebenwege“, der jetzt in Bayern (und voraussichtlich in zwei Wochen auch in Berlin) ins Kino kommt, geht derart autobiografisch und scheinbar ähnlich vor. Die Mutter – und das ist mittlerweile eine Standardsituation des filmischen Subgenres – weigert sich, ins Altersheim umzuziehen, und der Sohn fährt nun zwecks Sondierung der Lage von München zu ihr aufs Land.

Doch während Sibylle Brunner als Rosie eigensinnig und auch mit dem Einsatz von Alkohol eine ernst zu nehmend taffe Gegenspielerin ihrer Kinder sein darf, wird die österreichische Darstellerin Christine Ostermayer in „Nebenwege“ als verwirrt frömmelndes Kittelschürzenmütterchen auf Madonnen-Wallfahrt geschickt. Der gestresst am Handy hängende Sohn (Roeland Wiesnekker) und seine Teenie-Tochter setzen sich erst mit dem Möbelwagen und dann zu Fuß auf die Spur der durchs Niederbayerische nach Altötting flüchtenden Oma. Doch während sich das Trio erwartungsgemäß von der dysfunktionalen zur versöhnten Teilfamilie mausert, steht die vom Pilgern erstrebte Entschleunigung bloß auf dem Drehbuchpapier. Oder schlimmer: Sie findet pervertierte Resonanz in der Ziellosigkeit, mit der die vom bislang mit der Inszenierung von Vorabendserien hervorgetretenen Regisseur verfasste Story ihrem Ende entgegenschlingert.

Seniorinnen ganz vorn

Dabei erweist sich überdeutlich, wie die mediale Produktionsroutine ein bewegendes Thema zum nahezu beliebigen Plot-Element schreddert. Albernheiten statt Tragikomik, Küchenpsychologie statt Konfrontation mit substanziellen Familiengemeimnissen – offenbar will man mit derart billigem Versöhnungsgestus in einer Mischung aus Komödie, Familien- und Heimatfilm bloß die Kaufkraft der Silver Ager abschöpfen, vor allem deren als besonders harmoniesüchtig geltenden weiblichen Teil.

Tatsächlich, auch dies eine FFA-Zahl, sind die Kinobesucherinnen, nach eindeutiger Geschlechterparität in den früheren Lebensjahrzehnten, mit 60 Prozent in der Altersgruppe 60+ deutlich in der Überzahl. Überhaupt sind die Alten eine längst nicht mehr zu unterschätzende Marktgröße: Im vergangenen Jahr machten sie etwa für die Filme „Hannah Arendt“ (55 Prozent) und „Nachtzug nach Lissabon“ (51 Prozent) mehr als die Hälfte des Publikums aus, und nimmt man die über Fünfzigjährigen hinzu, stellten diese Zuschauerjahrgänge auch bei „Lincoln“ oder „Paulette“ eine satte Mehrheit. Andererseits: Der gesamte Altersschnitt der Zuschauer ist in den letzten sechs Jahren nur um drei Jahre gewachsen, von 33 auf 36. Bis zum kollektiven Kino-Bad im Silbersee also muss der demografische Wandel denn doch noch etwas arbeiten.

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