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Kultur: Ein Projekt der Aufklärung

Mit dem Fall der Mauer schien, einen historischen Wimpernschlag lang, die Nachkriegsgeschichte an ein Ende gelangt und nur noch Gegenwart, Aufbruch, Zukunft zu herrschen.Schnell aber zerstob die Illusion, und unter neuen Vorzeichen kehrt eben jetzt für alle Überlebenden und die Nachgeborenen die Frage wieder: Was bedeutet die bis zum Mai 1945 mit so beispielloser verbrecherischer Energie und einem heute nicht mehr vorstellbaren Wahnsinn betriebene Ermordung von Millionen Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung in Europa?

Mit dem Fall der Mauer schien, einen historischen Wimpernschlag lang, die Nachkriegsgeschichte an ein Ende gelangt und nur noch Gegenwart, Aufbruch, Zukunft zu herrschen.Schnell aber zerstob die Illusion, und unter neuen Vorzeichen kehrt eben jetzt für alle Überlebenden und die Nachgeborenen die Frage wieder: Was bedeutet die bis zum Mai 1945 mit so beispielloser verbrecherischer Energie und einem heute nicht mehr vorstellbaren Wahnsinn betriebene Ermordung von Millionen Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung in Europa? Schon rein sprachlich war dieser Zivilisationsbruch - im Kern ein Attentat auf die menschliche Gattung - kaum zu fassen.In dem Wort "Judenvernichtung" klang selbst noch etwas an vom nazistisch-bürokratischen Ungeist: als seien Fremdkörper, dingliche Stoffe oder gar Insekten "vernichtet" worden.Seit den späten siebziger Jahren, seit der gleichnamigen amerikanischen Fernsehserie hat sich dann der Begriff "Holocaust" (auch international) durchgesetzt - mehr als das hebräische Wort "Shoa".Auch dies ist für den bestialischen Massenmord ein eher entwirklichendes, abstraktes Hilfswort.Zur einfacheren Verständigung.

Und doch gibt es keine einfache, keine "normale" Verständigung, schon gar nicht über das Synonym allen Schreckens: den Ort Auschwitz.Das zeigte auch die Reihe der Debatten, sei es der sogenannte "Historiker-Streit" über die Einmaligkeit des Holocaust; sei es der vergleichsweise marginale, aber nicht weniger heftige Zwist um das Fassbinder-Stück über einen "Reichen Juden" im Milieu von Zuhältern und Immobilienspekulanten ("Der Müll, die Stadt und der Tod"); seien es die Auseinandersetzungen um das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin oder die jüngste Diskussion über Martin Walsers Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.

Die Rede hat neuen Unfrieden gesät.Niemand, auch nicht Walser, leugnet dabei, was in Auschwitz geschah.Aber Walser wandte sich wider eine publizistische "Instrumentalisierung" von Auschwitz gegenüber den an jenen mehr als 50 Jahre zurückliegenden Verbrechen unbeteiligten, heute in der Mehrheit erst später geborenen Deutschen.Der in seiner persönlichen Moralität gewiß unangreifbare Schriftsteller beharrte zugleich auf der Intimität des je individuellen Gewissens.Walser übersah jedoch, daß er diese nicht mehr als machtgeschützte Innerlichkeit, vielmehr als demokratische Privatheit behauptete Sphäre des Einzelnen vor der gesamten deutschen Öffentlichkeit zum Exempel erhob.Die Konfession des Privaten geschah in der Frankfurter Paulskirche, im politischen Raum.Auch dies war eine "Instrumentalisierung".Und Ignatz Bubis, Sprecher aller jüdischen Gemeinden in Deutschland, selbst Opfer und Überlebender des Holocaust, er empfand Walsers Bekenntnis zum beklommen-wehleidigen "Wegschauen"-Dürfen angesichts der Schreckensbilder von früher und heutiger Nachrichten über rassistische, rechtsradikale Gewalt in Deutschland als empörend.Als "geistige Brandstiftung".Weil jenseits der symbolischen Gefilde des Schriftstellers die ungeistvollen, aber realen Feuerleger lauern.

Es geht bei diesem inzwischen an vielerlei publizistischen Fronten entbrannten Streit keineswegs mehr um ein Bestreiten der historischen Wahrheit des Holocaust.Es geht um die weiterwirkende historische Dimension.Gestritten wird, mit allen Mißverständnissen und ungewollten gegenseitigen Verletzungen, um die Bedeutung von Auschwitz für heute: um die Erinnerung, um die Möglichkeit des Gedenkens.Auch morgen noch.Denn in ein paar Jahren schon wird es die unmittelbaren Zeugen nicht mehr geben.Keine Opfer, keine Täter.Und die Sorge, daß dann auch in einem solcherart "normalisierten" Deutschland das Vergessen beginnen könnte, sie treibt Ignatz Bubis und viele andere neuerlich um.

Bubis befürchtet, daß mit dem von Walser für sich (als Wissenden) reklamierten Recht zum Wegsehen die allgemeine Verdrängung und dann das Vergessen beginnen könnten.In diesem Punkt zumindest sind sich auch Klaus von Dohnanyi und Bubis einig: bei ihrem soeben bis ins persönliche Gezänk gesteigerten öffentlichen Briefwechsel.Richard von Weizsäcker hat nunmehr alle Beteiligten zur rationalen Verständigung gemahnt und im Hinblick auf die für das zivilisatorische Bewußtsein notwendige Erinnerung an Auschwitz formuliert: "...wenn die Erinnerung abreißt, ist die Ruhe zu Ende.So steht es schon im Alten Testament."

Alle Debatten aber um Gedächtnis und Selbstverständnis betreffen die politische Kultur eines erst allmählich wieder in der alten neuen Hauptstadt vereinigten Landes.Vor diesem Hintergrund soll demnächst der Deutsche Bundestag - und in bisher kaum geklärter Weise auch der Senat von Berlin - über den vor Jahren gefaßten Plan eines, so heißt es in den Ausschreibungsbedingungen, "nationalen" Holocaust-Denkmals in Berlin entscheiden.Einerseits steht dabei noch immer das Modell des New Yorker Architekten Peter Eisenman zur Diskussion: ein riesiger, welliger Steingarten südlich des Brandenburger Tors, konturiert durch 2700 unterschiedlich hohe Betonstelen.Das ist ein überarbeiteter, in seiner Struktur - gegenüber dem ursprünglichen, noch weit monumentaleren Entwurf - deutlich raffinierter gewordener Vorschlag, gegen den vor allem seine Abstraktheit spricht.Er könnte, für sich genommen, zwar eine gewisse städtebauliche Attraktion darstellen, wird bei den Betrachtern aber keine konkrete Erinnerung an den Menschheitsschrecken auslösen, wird weder ein allgemein verbindliches Abbild der Geschichte noch Inbilder persönlicher Besinnung oder Trauer evozieren.

Gerade an einer Zeitwende, in der das lebendige Zeugnis verlöscht, in der bei den Jungen Weltkrieg und Genozid nur noch als Schatten einer ferngerückten, immer unbegreiflicheren Vorvergangenheit erscheinen, müßten Erinnerung und die Lehren aus dem Geschehenen in weit anschaulicherer Weise überliefert werden.Jegliches Holocaust-Mahnmal kann also nur als ein Projekt der Aufklärung begriffen werden.Hierfür reicht der von György Konrád, dem Schriftsteller und Präsidenten der Berliner Akademie der Künste, statt eines "etatistischen" Denkmals vorgeschlagene "Park der Freude", eine Gartenanlage inmitten Berlins, leider nicht aus.

Je genauer man die jahrelange, nun selbst schon ein Stück Zeitgeschichte gewordene Mahnmal-Debatte betrachtet, desto deutlicher wird: daß es trotz aller gedankenreichen Einzelvorschläge bis heute an einem differenzierten Gesamtkonzept fehlt, das die bereits vorhandenen oder geplanten Gedenkstätten, Museen und Dokumentationszentren sinnvoll aufeinander bezieht.Versteht man eine Holocaust-Gedenkstätte, für die "einfach die Tatsache spricht, daß Auschwitz nicht in Deutschland liegt" (Ignatz Bubis), als einen emphatischen Mittelpunkt der sonst auf viele Orte verstreuten Bezeugung und Erinnerung, dann markieren den engeren thematischen Umkreis vor allem: die auf dem ehemaligen Gestapo-Gelände nicht weit von dem vorgesehenen Mahnmal-Areal als neues Museum entstehende "Topographie des Terrors" sowie das gleichfalls noch nicht eröffnete Jüdische Museum im Berliner Libeskindbau.

Beide Institutionen dienen allerdings ganz unterschiedlichen Zwecken.Die "Topographie" soll als Ausstellungs- und Forschungsstätte den gesamten diktatorischen Herrschaftsapparat des Nationalsozialismus dokumentieren, Polizei, Gestapo, Reichssicherheitshauptamt, SA und SS, die Verbrechen auch der Wehrmacht und gewiß das System der Konzentrationslager.Aber nicht vornehmlich oder ausschließlich den Holocaust.Umgekehrt ist für das Jüdische Museum der Massenmord am eigenen Volk nur eine (wenngleich: die fürchterlichste) Episode einer mehrtausendjährigen, ungeheuer reich facettierten Lebens- und Kulturgeschichte.Bliebe es in Berlin, wo es mit einiger Sicherheit keinen weiteren Denkmal-Wettbewerb mehr geben wird, bei Eisenmans Modell, dann müßten die zweieinhalbtausend Betonstümpfe auch eine symbolische Verbindung zu dem in beiden Museen Gezeigten sowie zu allen von Sachsenhausen bis Auschwitz vorhandenen authentischen Gedenkstätten herstellen.Allein diese Vorstellung beschreibt schon das Scheitern.Denn für kommende Generationen gibt es keinen ganz eigenen Ort - der Gedanken und (Mit-)Gefühl zum Gedenken bewegenden Anschauung und Erinnerung.

Denkmäler, auch für den Holocaust, und die Ruinen der Mordstätten existieren verstreut überall in Europa.Was freilich fehlt, ist ein deutsches Holocaust-Museum.Bei diesem Stichwort kommt zuerst die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem in den Sinn - ein nirgendwo in der Welt und schon gar nicht in Deutschland kopierbarer Ort der Trauer: um das eigene Volk.Doch gibt es in den USA inzwischen andere, für die Überlegungen auch hierzulande überaus lehrreiche Beispiele.Allen voran das United States Holocaust Memorial Museum in der Hauptstadt Washington.Das von James Ingo Freed, einem Partner des New Yorker Architekten I.M.Pei, der die Louvre-Pyramide erfunden hat und in Berlin den künftigen Anbau des Deutschen Historischen Museums, konzipierte dreistöckige Museum aus sandfarbenem Stein und einer verglasten, stahlgetragenen Mittelachse haben seit 1993 über zehn Millionen Menschen besucht.Und eine eindrucksvollere, bar aller Show-Effekte zugleich informierende und emotional erschütternde Präsentation zum Thema erscheint kaum denkbar.In keinem deutschen Museum, sondern mitten in Washington D.C.findet sich nun die beste Foto- und Filmdokumentation des Aufstiegs Hitlers und des allmählichen Zusammenbruchs der Weimarer Republik, des expandierenden Nazireichs.Wer dann durch den nachgebildeten Schlagbaum der deutsch-polnischen Grenze das Terrain des Krieges und endlich durch einen originalen Deportations-Waggon die Zone des Völkermords betritt, wird didaktisch dezent und zugleich unvermeidlich drastisch nicht nur den filmischen und fotografischen Zeugnissen konfrontiert, sondern auch Leihgaben aus Auschwitz und Majdanek, aus der Warschauer Sammlung auch von Zeugnissen des Ghettos, dazu die Videos der Shoa-Foundation Steven Spielbergs.Auch wer die originalen Orte von Besuchen kennt, ist ergriffen wie in keinem Museum sonst.Ein Museum nach diesem Vorbild hätte in Deutschland, in Berlin eine unvergleichliche Aufgabe - und Ausstrahlung.Es wäre das geglückte Denkmal.

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