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© David Baltzer/Zenit/Laif

Einar Schleef: Genie des Schmerzes

Er führte Titanenkämpfe, er wühlte das Theater auf. Er fehlt: Einar Schleef und seine monumentalen Tagebücher

Es steht nicht gut ums Theater, zumindest wenn man einem so rücksichtslosen wie hellsichtigen Theaterkünstler glauben will. „Ich glaube, dass Theater jetzt an einem Endpunkt angelangt ist, und es wird noch schlechter“, diagnostiziert der Regisseur. „Das Fatale ist, dass es um nichts mehr geht. Jeder führt seine Handschrift vor. Und damit hat es sich. Niemand spürt einen Schmerz, einen Inhalt.“

Was da klingt wie ein schlecht gelaunter Rückblick auf die vergangene Spielzeit, ist ein Totenschein, den Einar Schleef dem deutschen Theater schon vor anderthalb Jahrzehnten ausgestellt hat. Schleefs Vernichtungsurteil angesichts der trendbewussten Lauheiten, die er überall im Theater zu sehen bekommt: „Derzeit ist die Tragödie aushäusig, sie spielt sich auf der Strasse ab, von der Bühne hat sie sich verabschiedet.“ Für den Tragiker Schleef kommt das einer Selbstabschaffung des Theaters gleich. Wenn das Theater vor der Tragödie ausweicht, ist es nicht viel mehr als ein austauschbares Format der Unterhaltung.

Seine Aufgabe sieht Schleef darin, dies zu konterkarieren und die Tragödie wieder ins Theater zu holen. Er wollte nicht weniger, als sie anknüpfend an Aischylos, Goethe und Gerhart Hauptmann neu zu schaffen – eine Wiedererstehung der Tragödie aus dem Geist der Musik, der Chöre und des ungeschützten, nicht domestizierten Körpers. Für die zwingende Formsprache, die Schleef für seine Tragödien-Inszenierungen entwickelte, gilt Nietzsches Formulierung über die Schönheit des im Kunstwerk gebannten Schreckens: „Großer Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt.“

Schleef hat mit seiner schroffen Ästhetik, seiner völlig klaren und gleichzeitig enorm verstörenden Theatersprache tiefe Spuren hinterlassen. Seine wenigen Inszenierungen – Stücke wie Jelineks „Sportstück“ am Wiener Burgtheater, Hochhuths „Wessis in Weimar“ am Berliner Ensemble oder Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ am Schauspiel Frankfurt – markieren Radikalpositionen des Theaters, inkommensurable Kunstwerke, die wie erratische Blöcke in der Landschaft stehen. Es sind Inszenierungen, die nach den Premieren jeweils für heftige, auch allergische Reaktionen sorgten und noch nach Jahren gespenstisch präsent sind – auch darin das Gegenteil des schnell verdaulichen Konsumgüter-Theaters, dessen Halbwertszeit sich der von Gummibärchen annähert.

Es liegt auch an diesem Kontrast, dass von Schleef heute, acht Jahre nach seinem viel zu frühen Tod mit gerade einmal 57, eine enorme Faszination ausgeht. „Schleef fehlt“, sagt der Regisseur Michael Thalheimer über die Leerstelle, die Schleef, „der Feuerkopf“ (Alexander Kluge), im Theater hinterlassen hat. Fragt man die Schauspielerin Nina Hoss nach einer der intensivsten Arbeitserfahrungen ihres Theaterlebens, erzählt sie von den Proben mit Schleef an dem Jelinek-Monolog „Macht nichts“, Schleefs letzte Regiearbeit, bei der er die Proben abbrechen musste, weil er krank wurde.

Die Regisseurin Andrea Breth, ästhetisch sehr weit von Schleefs Rohheiten entfernt, spricht voller Bewunderung und Hochachtung von Schleefs Kunst. Ein anderer Theaterkünstler hat, lange vor seinem Regiestudium und dem Karrierestart, als junger, noch völlig unbekannter Mann als Statist in Schleefs Bewegungschören viel gelernt: Thomas Ostermeier, der künstlerische Direktor der Berliner Schaubühne.

Zu den Paradoxien von Schleefs Kunst gehört, dass sie gleichzeitig monumental und ungeschützt persönlich ist. Sein Theater ist nicht nur verstörend für sein Publikum, es spricht, genau wie Schleefs Prosa, auch von den Verstörtheiten und Qualen ihres Regisseurs. Wenn er dem Gegenwartstheater vorwirft, in ihm spüre niemand „einen Schmerz, einen Inhalt“, so als seien Schmerz und Inhalt zumindest im Theater für ihn identisch, formuliert er sein eigenes Progamm: ein Theater des Schmerzes. Nicht weil ihm das gefällt, sondern weil er keine andere Wahl hat.

Die biografische Rückseite seiner Kunst zeigt sich in der jetzt abgeschlossenen Edition seiner Tagebücher. Sie sind neben seinem Monumentalroman über das Leben seiner Mutter („Gertrud“) und seinem ästhetisch-politischen Manifest „Droge Faust Parsifal“ sein drittes literarisches Hauptwerk und, wie alles in Schleefs Werk, wuchtig, schwer verdaulich und eine Zumutung. „Backsteine aus Worten, die ich den Leuten um die Ohren schmeiße. Exil, alleine sein und daran verbrennen“, nennt Schleef selbst seine hoch aufgetürmten Geröllhalden aus Sätzen, Momentaufnahmen und immer wieder durchgearbeiteten Erinnerungen, insgesamt über 2200 eng bedruckte Seiten in fünf großformatigen Bänden.

Schleef hat bis zu seinem Tod manisch Tagebuch geschrieben. Die ersten Aufzeichnungen stammen von 1953, da ist er neun Jahre alt. Sie klingen wie eine Vorwegnahme seines Theaters des Krieges: „Auf der Strasse Panzer“, notiert er am 17. Juni 1953 in Sangerhausen, der thüringenschen Kleinstadt, in der er aufwächst. „Überall Panzer: Wo kommen die vielen Panzer her? In unserer Strasse einer hinter dem anderen (...) Leute rennen zum Marktplatz, ich hinterher. Polizisten schlagen Männer zusammen, Blut vor dem Rathaus. Frauen schlagen Polizisten. Alle schreien.“ 1999 fing er an, seine Aufzeichnungen aus viereinhalb Jahrzehnten abzuschreiben und zu kommentieren – ein obsessiver Akt der Selbstvergewisserung, der bei Schleef immer auch ein Hinabsteigen in die Selbstgefährdungen ist. „Ich kann nur zur Schreibmaschine. Das schaffe ich noch“, notiert er 1981. „Hinkriechen. Mich setzen. Den Kopf aufschlagen. Müde sein (...) Ich sitze hier. Mich kaum noch bewegen. Nur die Schreibmaschine bleibt. Eingekreist. Ich bin mein Gefängnis. Meine Haare ausreissen, ob ich mir dann näher? Ich kann nicht aus mir.“ Dieser Einsamkeits-, Selbsthass- und Selbstfaszinations-Sound zieht sich durch. Das Schreiben wird zu einem fast sexuellen Akt: „Ohne irgendeinen Menschen, in dessen Fleisch man beisst, besser ins eigene, in den Computer, dessen Tasten wie Fleisch nachgeben, hart werden unter dem Anschlag“, schreibt er 1999 in Wien. „Über wen schreiben, wenn nicht über mich. Gibt es eine andere Geschichte, einen anderen Menschen, bin ich dazu überhaupt fähig“, heißt es 1984. „Ich kann nur in die Sätze meines Buches kriechen, die werden jetzt Ich.“

Die Spiele der Selbstinszenierungen, die Pose vor dem Spiegel, wie man sie aus den Tagebüchern von Thomas Mann bis Rainald Goetz kennt, schenkt er sich. Stattdessen: Selbst- und Weltabrechnung, Stenogramme der Verstörung, Durchkauen der Erinnerungen.

„Erinnern ist Arbeit. Was ich beim Verlassen der DDR nicht wusste, wie groß mein inneres Gepäck wurde und wie mächtig die Erinnerungen, und wie schwer die Erschütterungen durch die neue Umgebung, die neuen Lebensverhältnisse, war“, notiert er 1992. Daneben ist der Ärger am Theater eher lästig als schmerzhaft, zum Beispiel, wenn ihm Claus Peymann, damals noch Burgtheater-Direktor, in den Ohren liegt: „Ich bin 62, jammert mir dieser Mann am Telefon vor, er ist schon 30 Jahre Intendant, ja denke ich, von dir ist nichts zu erwarten.“ Schleefs Schlusswort zu diesem Kapitel, in schroffer Thomas-Bernhard-Manier: „Peymann Nervengift. Als Regisseur indiskutabel, als Intendant ebenfalls.“ Ansonsten kommt Außenwelt nur in der subjektiven Spiegelung vor – im Schreiben ist Schleef in der Selbstqual ganz bei sich.

Äußere Erfolge, zum Beispiel im Theater, interessieren weniger als etwa die Porno-Kinos, die Schleef in Frankfurt ausgiebig besucht, wobei diese Erlebnisse in seiner Beschreibung sofort wieder zu Szenen aus seinem Körper-Theater werden. Der Kurzschluss zwischen Alltagsbeobachtungen und seiner Theaterwelt ist ein wiederkehrendes Muster. Beiläufige Gespräche, die er notiert, wirken in diesem Kontext plötzlich wie Bausteine seiner ästhetisch-politischen Tragödien, zum Beispiel wenn ein Zufallsbekannter berichtet, er sei „am Potsdamer Platz gewesen, dagegen sei Hitlers Berliner Bauvorhaben human, das schaffe nur ein Krieg weg, der würde nahezu provoziert“. Wie gesagt, Schleef ist eine Zumutung.

Einar Schleef: Tagebücher 1953–2001, Suhrkamp-Verlag, 5 Bände, je 30 Euro.

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