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Kultur: Eine Kamera für die Söhne

Kino ist Kunst. Kunst ist Politik. In der Berliner Film- und Fernsehakademie ging es nie nur ums Handwerk. Jetzt feiert sie Geburtstag

Aufnahmeprüfung im Deutschlandhaus am Theodor-HeussPlatz. Es ist die erste für die neu gegründete Filmschule. Wolfgang Petersen besteht sie, fast alle, die sich mit dem späteren Hollywood-Regisseur auf der Liste des ersten Jahrgangs finden, haben später Filmgeschichte geschrieben. Nicht nur das: Sie verkörpern Politgeschichte, eine linke Geschichte der Republik. Helke Sander, Feministin der ersten Stunde, ist dabei, der Schweizer Kinomagier Daniel Schmid, der politische Filmessayist Harun Farocki – und Holger Meins.

Berühmt ist die Aufnahmeprüfung aber wegen eines anderen Namens geworden. Wegen eines Probanden, der durchfällt im Gründungsjahr 1966. „Unglaublich, was der alles wusste“, erinnert sich Helene Schwarz heute an den Augenblick, als ihr an einem ihrer ersten Arbeitstage als Sekretärin die Akten des Kandidaten Rainer Werner Fassbinder in die Hände geraten. „Heute gibt es keinen, der so viel weiß.“ Helene Schwarz, die gute Seele und unumstrittene Königin der Schule, fragt unerschrocken nach, warum man diesen Fassbinder abgelehnt hat, der doch offensichtlich von Film besessen ist. „Die Herren drückten sich alle um eine Antwort.“ Seitdem ist Helene Schwarz bei jeder Aufnahmeprüfung dabei. Bis heute.

Die Akademie ist die erste Filmschule Deutschlands, bis heute hat sie den Ruf, weniger für die Kinokasse auszubilden, als für die Kunst: eine Kaderschmiede für die Autorenfilmer. Das hat mit den unruhigen Anfangsjahren zu tun, in dem die Politik mindestens ebenso wichtig war wie das Zelluloid. Das wiederum liegt an Papas Kino, dem Beharrungsvermögen von Heinz Rühmann und Co. auf den deutschen Leinwänden.

Papas Kino ist tot, lautete die Kampfansage 1962. Nur auf die Frage, wo die Söhne herkommen sollen, gab das „Oberhausener Manifest“ der Filmemacher rund um Alexander Kluge keine Antwort. Es ist der Schriftsteller, Grafiker und Filmemacher Peter Weiss, der vorschlägt, eine Filmakademie in Berlin ins Leben zu rufen. Eigentlich will er auch Direktor werden, nach jahrelangen Rangeleien zwischen Bund und Ländern gibt er entnervt auf. Als Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt am 17. September 1966 im großen Sendesaal des SFB die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (kurz: dffb) eröffnet, wird eine Doppelspitze installiert. Weil Bonn und Berlin sich nicht einigen können, gibt es zwei Chefs: Heinz Rathsack für Pädadogik und Theorie, Erwin Leiser fürs Künstlerisch-Praktische.

Wie bringt man jungen Menschen das Filmemachen bei? In Deutschland hat man damit keine Erfahrung. Michael Ballhaus, Kameramann von Weltruf und Dozent der ersten Stunde, lernt mehr von seinen Schülern als umgekehrt. Die Offenheit führt dazu, dass die Studenten von Anfang an mitbestimmen. Hartmut Bitomsky, auch er Absolvent des ersten Jahrgangs und seit 2005 dffb-Direktor, erinnert sich, wie Gerd Conradt vor Aufnahme des Unterrichtsbetriebs in die Akademie stürmt und ruft: „Wann geht’s denn endlich los?“ Er nimmt sich zwei Standard-8-Kameras und filmt die Geburt seiner Tochter in Rom.

Die Schüler wissen genau, was sie wollen. Ihr Richtmaß ist die französische Nouvelle Vague: ungewöhnliche Schnitte, hektische Handkamera. Die Dozenten finden das amateurhaft. Der Student Peter Straschek will am liebsten nur lange Einstellungen, sie sind der letzte Schrei. Sein Dozent hält mit Eisenstein dagegen: „Vergessen Sie die Schere nicht!“ Während die beiden noch streiten, ist der Kommilitone Wolfgang Sippel im Zoologischen Garten unterwegs. Als er zurückkommt, vermisst der Dozent die Menschen auf den Bildern. Wenn man im Zoo filmt, müsse man auch Menschen zeigen, um Beziehungen und Gegensätze zu konstruieren. Sippel findet das unmoralisch.

„Es gab dezidierte Haltungen“, erzählt Bitomsky. „Heute denkt man immer nur an den politischen Diskurs, dabei war es viel komplizierter.“ Politische und künstlerische Fronten überlagern sich, „ein feuergefährliches Gemisch“. Als Michael Ballhaus erklärt, dass man für Nahaufnahmen ein 50er-Objektiv benutzen müsse statt des Weitwinkels, wird er nach dem Warum gefragt. „Weil das besser aussieht.“ – „Aber wir wollen doch einen Kapitalisten nicht gut aussehen lassen.“

Nachwuchs fürs Filmhandwerk erhofft man sich in Bonn und Berlin von der Akademie. Die Studenten wollen lieber agitieren. Thomas Giefer treibt sich mit einer Bolex-Aufziehkamera bei den Demos herum. Sein erster Film ist eine technisch ziemlich mangelhafte Dokumentation der Unruhen anlässlich des Schah-Besuchs vom 2. Juni 1967. Einige der Bilder, die sich ins Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt haben, stammen von ihm. „Die Kamera“, so Gerd Conradt, „wurde zur Waffe im Kampf gegen Manipulation, Ausbeutung und Unterdrückung.“

1967 kommt es zur ersten größeren Machtprobe zwischen Studenten und Direktion, als die Dozenten hinter verschlossenen Türen den Ausschluss einiger Studenten beschließen, wegen mangelnder Filmqualität. Wolfgang Sippels Zoofilm und Peter Strascheks Plansequenzen sind auch darunter. Die Studenten erzwingen die Wiederaufnahme der Entlassenen. Aber der Vorfall treibt die schwelende Politisierung der Akademie weiter voran. Als Michael Ballhaus seinem Schüler Conradt eine Rolle Farbfilm in die Hand drückt, marschiert der ins Rathaus Schöneberg und erscheint mit der roten Fahne auf jenem Balkon, von dem aus sich John F. Kennedy zum Berliner erklärt hatte. Der Tatbestand: „Schwenken der roten Fahne an einem nicht genehmigten Ort.“

Dann verfilmt ein bis dahin eher zurückhaltender Student das Handbuch zur Herstellung eines Molotow-Cocktails. Es ist Holger Meins, der sich später unter dem Decknamen „Rolf“ der ersten Generation der Roten Armee Fraktion anschließt und 1974 an den Folgen eines Hungerstreiks in der Vollzugsanstalt Wittlich stirbt. Das Schlussbild seines Films zeigt das Springer-Hochhaus: ein Zielvorschlag für etwaige Anschläge. Die Direktion beschlagnahmt das Werk, wenig später verschwindet auf unerklärliche Weise Peter Strascheks „Ein Western für den SDS“. Das Verhältnis zwischen Direktion und Studenten ist endgültig vergiftet; man spricht nicht mehr miteinander.

Helene Schwarz, die unter den Nazis als Tochter eines Oppositionellen aufwuchs, will das dffb-Paradies retten. Ja, sie nennt es ein Paradies, wegen der Freiheit. 1968, als alle Gastdozenten wegen der Berlinale in der Stadt sind, lädt sie in ihre Wohnung im Grunewald ein. Die Studentenräte Holger Meins und Hartmut Bitomsky kommen dazu, man diskutiert bis spät in die Nacht. Um halb drei in der Früh fällt es Ulrich Gregor, Dozent für Filmgeschichte und später Leiter des Berlinale-Forums, plötzlich ein: „Wir gründen einen Akademischen Rat.“

Die Direktoren schäumen. Da sie die Einführung des „Aka-Rats“ mit vier Stimmen für die Chefs, vier für die Dozenten und vier für die Studierenden nicht verhindern können, versuchen sie wenigstens, Helene Schwarz loswerden. Bei der nächsten Dozentensitzung ist sie nicht dabei. Rathsack will beginnen, da steht Ulrich Gregor auf: „Ist Frau Schwarz heute nicht dabei?“ – „Nein.“ Gregor setzt sich, Rathsack nimmt einen neuen Anlauf. Da meldet sich Michael Ballhaus: „Ich muss noch mal nachfragen: Ist Frau Schwarz krank?“ – „Nein, die ist nicht krank.“ Rathsack will fortfahren, da erhebt sich der Regie-Dozent Johannes Schaaf: „Wird hier vielleicht am Stuhl von Helene Schwarz gesägt?“ Rathsack zögert. Erwin Leiser stößt ihn von der Seite an und zischt: „Jetzt sagen Sie mal Ja.“ Rathsack aber sagt Nein – und Helene Schwarz bleibt. Gegen die Hausmacht der Sekretärin ist die Direktion machtlos.

Der „Aka-Rat“ entwickelt sich zum Machtinstrument der Studenten. Er verteilt Gelder und nimmt Einfluss auf die Wahl von Dozenten. So wird etwa Wolfgang Lenk berufen, um „didaktische Fragen der Vermittlung des Marxismus-Leninismus“ zu unterrichten. Wer einen Film drehen will, und sei es nur ein kurzes Übungsstück, muss im Rat erklären, ob der Film auch dem Volke nutzt. Die Epoche der Flugblätter: Die Akademie ist mehr Druckerei als Filmschule.

Dass die Schneideräume trotzdem nicht verwaisen, liegt an den „Kuchenfilmern“. So nennen die „Politfilmer“ jene Kommilitonen, die weniger Ehrgeiz haben, die Welt zu verändern. Der Schweizer Hotelierssohn und Fassbinder-Freund Daniel Schmid ist einer von ihnen, Hollywood-Regisseur Wolfgang Petersen („Poseidon“) ein anderer. Petersen wird verachtet. „Wenn du Filme für andere machen willst, dann geh’ doch zum Fernsehen“, muss er sich anhören. Es wird hitzig an der dffb.

Aber da ist auch das Büro von Helene Schwarz: Ort der Wärme, neutrale Zone. „Hier musste man sich nicht verteidigen“, erinnert sich Helke Sander später, jene Filme machende Feministin, die aus der dffb heraus den „Aktionsrat zur Befreiung der Frau“ gründet. Bei Helene wird Kaffee ausgeschenkt, von hier aus klingelt Ballhaus Studenten aus dem Bett und macht ihnen schon mal das Frühstück. An dem großen Tisch mit zwölf Stühlen treffen sich die Studenten, während die beiden Graupapageien schreien und Helene an ihrer roten Kugelkopf-Schreibmaschine tippt. Viele schütten ihr das Herz aus, manchmal schaut auch Ulrike Meinhof vorbei.

Im Herbst 1968 kommt es zum Eklat. Achtzehn Studenten besetzen das Büro von Direktor Rathsack, rauchen seine Zigarren, blättern in den Akten – und finden im Schrank Peter Strascheks vermissten Film. Wütend besetzen sie die Schule, taufen sie in „Dziga-Wertow-Akademie“ um, nach dem sowjetischen Dokumentaristen, hissen die rote Fahne – und werden von der Direktion eingesperrt.

Mit allem, was sie in ihrer Wohnung an Lebensmitteln finden kann, macht sich Helene Schwarz auf den Weg zu Ballhaus in die Wangenheimstraße, wo die beiden Reis- und Nudelaufläufe zubereiten. Als sie mit den dampfenden Taschen vor dem Deutschlandhaus ankommt, stellt sich Direktor Rathsack in den Weg. Sie müsse die Vögel füttern, gibt sie unschuldig vor. Der Direktor gibt den Weg frei – und die Studenten fallen gierig über das Essen her.

Schließlich wird das Gebäude von der Polizei geräumt. Der komplette erste Jahrgang wird von der Akademie verwiesen, auch Bitomsky, ihr heutiger Direktor. Er wird angeklagt wegen Körperverletzung – weil er den Produktionsleiter am Betreten des Direktorenbüros gehindert hatte. Die 18 versuchen, neue Produktionseinheiten zu bilden, aber die Gruppe fällt bald auseinander. Dennoch hat das, was man später die „Berliner Schule“ nennt, hat die politische Ethik der Arbeiter- und Dokumentarfilme der siebziger Jahre hier ihren Kern.

Die Siebziger sind die Zeit der K-Gruppen, der verbissenen Zersplitterung der Linken. Auch an der Schule streiten sich die Betonköpfe. Als die Dokumentaristin Helga Reidemeister einen Hilfsarbeiter porträtiert, muss sie sich vorwerfen lassen, über so einen drehe man keine Filme. Nur ein Facharbeiter hätte das Zeug zum „revolutionären Subjekt“.

Der Hinwendung zum Dokumentarischen folgen die „Zimmerfilmer“, der Rückzug in die Innerlichkeit. In den Achtzigern schließlich dominiert an der dffb der narrative Spielfilm, Wolfgang Becker studiert hier („Good Bye, Lenin!“) und Detlev Buck („Knallhart“), auch Christian Petzold („Die innere Sicherheit“) gehört zu den Erstsemestern.

Es bleibt Reinhard Hauff vorbehalten, den Systemwechsel zu vollziehen. 1993 wird er Direktor und führt etwas Unerhörtes ein: das strukturierte Studium. Die Studenten kommen jetzt aus bürgerlichen Familien, mit Abitur in der Tasche wollen sie vor allem etwas lernen, das ihnen eine Filmkarriere ermöglicht. Als Reinhard Hauff den Akademischen Rat entmachtet, gibt es kaum Gegenwehr. Aber es gefällt ihm, die Eleven zu provozieren. „Sie haben wenig zu kämpfen, haben wenige Gegner“, sagt er einmal. Deshalb gibt er sich gern für das Feindbild her.

Hauff gründet eine Drehbuch-Akademie, führt einen Produzenten-Studiengang ein, forciert die Zusammenarbeit mit dem Fernsehen und verwandelt die Schule in eine solide Ausbildungsstätte. Unter den Absolventen finden sich Achim von Borries („Was nützt die Liebe in Gedanken“), Hannes Stöhr („Berlin is in Germany“) und Angela Schanelec („Marseille“). Es gibt viele Faktoren für den Aufschwung des deutschen Films in den letzten Jahren. Die dffb ist einer davon.

1996 kündigt der SFB den Mietvertrag im Deutschlandhaus an der Pommernallee. Die Akademie zieht in die Heerstraße und schließlich in das Filmhaus im Sony-Center am Potsdamer Platz. Ist im schicken Design von Stahl und Glas noch was übrig vom alten Geist? „Vielleicht latent, hier und da“, sagt Hartmut Bitomsky. Und fügt hinzu, dass es immer noch eine sehr energische Studentenschaft gibt. Und da ist immer noch Helene Schwarz, die graue, 79-jährige Eminenz in ihrem farbenfroh eingerichteten Büro. Zu ihrem Ruhm wird bei Feierlichkeiten zum 40. Geburtstag der Schule erstmals der Helene-Schwarz-Preis für die beste Regie vergeben. Das Preisgeld hat sie gemeinsam mit ihren Freunden unter den Filmschaffenden erspielt – in der wöchentlichen Skatrunde, auf der seit 36 Jahren die Karten auf den Tisch gelegt werden.

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