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Kultur: Eine Pistole zum Geburtstag

Alles beginnt mit Warten.Die Bühne ist hergerichtet wie für einen Kindergeburtstag.

Alles beginnt mit Warten.Die Bühne ist hergerichtet wie für einen Kindergeburtstag.Vorne rechts auf der fast quadratisch genutzten Fläche liegt ein großer Stapel schillernd verpackter Geschenke; an den Seiten zwei Reihen rollbarer Kinositze; im Hintergrund zwei lange Tafeln mit Getränken.Auch ein Flügel für Musik besteht bereit.Aber die vier Personen werden mit sich allein bleiben.Die Choreographin Julie Bougard, ihre beiden Mittänzer Lisa Gunstone und Davis Freeman sowie die Pianistin Anne Vandewalle warten lustlos, gereizt auf ein glänzendes Fest, das nicht stattfinden wird.Erst als Vandewalle zum Piano geht und beginnt, die sensiblen Kompositionen von Pascal Charpentier zu intonieren, kommt Bewegung in die kleine Partygesellschaft.Schneller ziehen sie ihre Bahnen im Raum, fahriger werden ihre Gesten der Ratlosigkeit.Es scheint, als seien sie gefangen in einem Alltagsalptraum, nicht wissend wie entfliehen.

"Prooizak 200 mg" hat die junge Brüsseler Choreographin Julie Bougard ihre sechzigminütige Irrfahrt in Anspielung auf ein bekanntes Antidepressivum genannt.Das scheinen die drei Figuren in ihren bunten Regenmänteln auch zu brauchen.Denn sie sind gebannt in einem horror vacui, der ihnen heftig die Lebensfreude trübt.Ihre Körper werden von Zuckungen und Krämpfen geschüttelt; sarkastisch singen sie ein Lied mit- und über einander, das schonungslos die intimsten Tiefs der Biographie ans Licht holt.Selbst die Geschenke, die sie sich machen, enthüllen einen üblen Hintersinn: eine Pistole für den Selbstmord etwa oder bloß fünf weitere Regenmäntel, die niemand braucht.Nichts, versichern Mann und Frau an einer Reckstange hängend, geschieht, nichts führt irgendwo hin, geschweige denn hinaus in eine geträumte, ersehnte Freiheit.

So enden denn ihre kurzen Tanzanläufe in wütender Selbstumarmung oder endlosen Kopfrotationen.Momente der Begegnung werden zu Attacken, bei denen die Frau ihren Körper in den des Mannes rammt, sich in verkeilten Positionen drehen läßt - zu keinem kurzen Glück, zu keinem Aufschwung.Verstockt und verquer ist ihnen das Leben, mag eine der Frauen sich auch noch so versonnen Goldstaub aufs Haar regnen lassen - zum Sterntaler-Mädchen wird sie dadurch nicht.Später trägt sie ein Akkordeon wie Engelsflügel auf den Rücken geschnallt, doch das sich ausfaltende Instrument kippt sie aus dem Lot, der Mann muß sie stützen und fangen.

Viel Zeit, manchmal noch allzu viel Zeit nimmt sich Julie Bougard für die Entwicklung ihrer Ideen.Zuweilen trägt allein die stimmungsreiche Musik von Pascal Charpentier über die Lücken in den immer wieder ersterbenden Aktionen.Ihre Bewegungsansätze sind spärlich, eher noch vom Ausdruckswillen getragen denn von der ausgearbeiteten, beherrschten Form.Erst dem Ende zu verdichten sich die Bilder.Wenn zunächst die beiden Frauen mit vorgeschnallten Schwangerenbäuchen und dicken Brüsten posieren, demonstrativ rauchen.Später gesellt sich auch der Mann, mit der gleichen Fruchtbarkeitsprothese, dazu.Alle drei verwandeln sich in rücklings krabbelnde Kriechwesen, hilflos wie auf den Rücken gedrehte Käfer.Kein Mutterglück führt aus der Hoffnungslosigkeit.

Aber dann scheint sich doch noch ein Moment der Befreiung einzustellen.Beseligt lassen die verlorenen Partygäste die beiden Sitzreihen kreisen; die Stühle tanzen die Walzerseligkeit, die die Menschen im Alltag nicht finden können.Schließlich hängen alle wieder am Reck.Der Mann erzählt eine Kindheitserinnerung an eine Märcheninszenierung.Alle sind da: die Zwerge, die Elfen - nur an die Meerjungfrauen hat keiner gedacht.Im doppelten Sinn: bescheidene Anfänge.

NORBERT SERVOS

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