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Kultur: Einfach schwer

Die Leipziger Buchmesse beginnt mit einem Eklat

Von Gregor Dotzauer

Es hätte, so kurz vor der EU-Erweiterung, ein europäisches Fest werden können, wenn die schöne Utopie einer westöstlichen Gemeinschaft nicht schnell an alte Grenzen gestoßen wäre. Kaum war Sandra Kalniete ans Pult im Leipziger Gewandhaus getreten, kämpfte sie schon mit dem Geist von Donald Rumsfeld. Nein, sie wolle nie mehr vom alten und neuen Europa reden, erklärte die lettische Ex-Außenministerin in ihrer Eröffnungsrede zur Buchmesse. „Es gibt nur ein einziges wiedervereinigtes Europa, in dem jeder Mensch seinen Wert hat.“ Und sie begründete ihren Anspruch mit der Rückkehr osteuropäischer Geschichte. „50 Jahre wurde die Geschichte Europas ohne uns geschrieben, und die Geschichte der Sieger des Zweiten Weltkriegs hat bei jedem streng zwischen Gut und Böse, Korrektem und Unkorrektem unterschieden.

Erst seit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben Forscher Zugang zu Archivdokumenten und Lebensgeschichten von Opfern bekommen. Sie bestätigen, dass beide totalitäre Regimes – der Nationalsozialismus und der Kommunismus – gleichermaßen kriminell waren. Es darf niemals eine Abwägung zwischen den beiden Philosophien geben, nur weil eine davon am Sieg über die andere teilhatte.“ Spätestens damit hatte sie einen anderen Geist heraufbeschworen. Denn da verließ Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der deutschen Juden, schimpfend den Saal, als hätte Kalniete den Holocaust herunterspielen wollen.

Es ist unwahrscheinlich, dass die lettische EU-Kommissarin jemals vom deutschen Historikerstreit Mitte der Achtziger gehört hat, in dem es darum ging, ob der Vergleich der Totalitarismen zu einer Relativierung der Nazi-Verbrechen führen müsse. Eine Folgerung, die von der Partei um den Historiker Ernst Nolte durchaus beabsichtigt war. Kalniete unlautere Absichten – oder auch nur Naivität – vorzuwerfen, wäre dennoch absurd. Die Kunsthistorikerin und Politikwissenschaftlerin, fünf Jahre lettische Botschafterin in Frankreich und danach zwei Jahre bei der Unesco, bevor sie 2002 das Amt der Außenministerin übernahm, hat nur eine andere, ihre eigene – zugleich exemplarische – Geschichte. Sandra Kalnietes bisher nur in französischer Übersetzung vorliegendes Buch „Mit Tanzschuhen im sibirischen Schnee“ erzählt das Schicksal ihrer Familie, die von den Sowjets nach Sibirien deportiert wurde. Sie selbst, 1952 geboren, kehrte erst als Siebenjährige nach Lettland zurück.

Eine öffentliche Geste wie die von Salomon Korn tritt ungewollt in den Wettbewerb der Opfer ein, um den es keinesfalls gehen darf. Er entsteht nicht dadurch, dass jemand das Recht wahrnimmt, seine Geschichte zu erzählen. Dieses Recht ist vielmehr Bestandteil des „neuen Narrativ“, für den der tschechische Dichter, Diplomat und neue internationale PEN-Präsident Jiri Gruša in seiner Leipziger Festrede plädierte: „Nicht die Geschichte, sondern Geschichten werden uns freier machen.“ Die Voraussetzung ist ein „Abschied von der Zentralität“ – nicht allein geografisch.

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