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Kultur: Einstein oder nicht sein

Wiedersehen in parallelen Welten: Heute beginnt das 42. Berliner Theatertreffen

So groß ist der Unterschied nicht zwischen einem römischen Konklave und der Abschlusssitzung der Theatertreffenjury. Sicher, die Jury tagt etwas häufiger als das Kardinalskollegium, nämlich alle zwölf Monate, und es wählen hier auch Frauen mit: Barbara Burckhardt ist in diesem Jahr Sprecherin der sieben Kritikerpäpste und -päpstinnen. Doch im Großen und Ganzen darf das Berliner Theatertreffen als eine der ehrwürdigsten, ja vatikanischsten Institutionen des deutschsprachigen Kulturbetriebs gelten. In den 42 Jahren seiner Existenz hat es bei den Grünen Bühnenwochen etliche Veränderungen gegeben, aber nie eine grundlegende Reform. Die Skandälchen lassen sich an einer Hand abzählen. Verblüffende Solidität: Das Theatertreffen ist über Jahrzehnte das Auge aller Theaterstürme.

Vor einiger Zeit wurde die Zahl der „bemerkenswerten“ Inszenierungen, die sich in Berlin präsentieren, auf zehn festgelegt. Und doch sind es jetzt nur neun. Andrea Breth war nicht zu bewegen, ihren „Don Carlos“ vom Wiener Burgtheater für Berlin einzurichten; 2003 war die Brethsche „Emilia Galotti“ im Haus der Berliner Festspiele eingebrochen. Die Reisefähigkeit von Aufführungen gehört allerdings zu den Alltagsproblemen jedweden Festivals auf diesem Globus. Johan Simons’ „Anatomie Titus“ zum Beispiel kam im vergangenen Jahr in der ehemaligen Freien Volksbühne intensiver über die Rampe als bei der Premiere in den Münchner Kammerspielen.

Hier aber steht dem Starrsinn einer Regisseurin auch noch das starre Regelwerk des Theatertreffens entgegen. Warum wurde nicht ein anderes Stück nachnominiert? Schließlich hat die Jury an die siebzig Inszenierungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz sondiert.

Kein Schiller beim Theatertreffen im Schillerjahr – dafür eine Vielzahl anderer (moderner) Klassiker. Mit Stefan Puchers „Othello“ vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg wird das Theaterfest heute eröffnet, gefolgt von Andreas Kriegenburgs „Nibelungen“ von den Münchner Kammerspielen. Auch Johan Simons (eingeladen mit seinen Zürcher „Elementarteilchen“), Jürgen Gosch (mit Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ vom Deutschen Theater Berlin) und Jossi Wieler (er beschließt mit der Münchner „Mittagswende“ von Paul Claudel den Reigen) zählen inzwischen zu den Stammgästen im Berliner Theatermai.

Kein Schiller, auch kein Goethe. Michael Thalheimers Berliner „Faust“ hätte sich dringend angeboten, die Jury zog Thalheimers „Lulu“ aus Hamburg vor; eine zur Not vertretbare Entscheidung. Schwerere Versäumnisse kann man dem Auswahlgremium dieses Jahrgangs kaum anlasten. Trendsucher und -setter haben es derzeit schwer. Der einzige Trend ist, dass es keinen gibt. Manch einer mag beklagen – wie kürzlich Bundespräsident Köhler –, dass die deutsche Klassik auf den Bühnen verkümmere. Aber das ist ein Streit von gestern. Ebenso gut könnte man fragen, warum ein Michael Thalheimer grundsätzlich Klassiker inszeniert – und keine Zeitgenossen.

Etwas fällt auf: Das Theater hat die Pret-à-porter-Diskurse fürs Erste abgelegt. Das Modethema Glaube und Religion scheint sich schon wieder zu verflüchtigen. Die Theatertreffen-Auswahl spiegelt das wider. Das deutschsprachige Theater zeigt sich so pragmatisch wie vielfältig. Was vor kurzem noch endlos debattiert wurde (Globalisierung!), ruht jetzt im Mülleimer der Aufgeregtheiten. Der gute alte Generationenkonflikt? Erledigt. Wenn Peter Handke es ablehnt, sich mit seinem „Untertagblues“ dem Wettbewerb der Mülheimer Theatertage 2005 auszusetzen, mit ähnlich übellauniger Begründung wie zwei Jahre zuvor Botho Strauß, dann ist alles gesagt. Dieser Tage ist im Berlin Verlag ein dickes Buch erschienen: „Peter Stein, ein Portrait“ von Roswitha Schieb: mehr Hagiographie denn Biographie. Nicht mehr von dieser Theater-Welt. Im Theater gibt es mehr Parallelwelten denn je.

Puchers „Othello“ fährt auf, was auf der Bühne technisch machbar ist. High-Tech-Theater aber wird nicht mehr als Zauberei, als ideologischer Zankapfel betrachtet. Man benutzt es. Oder man packt das Video wieder weg, wie zuletzt Frank Castorf.

Es heißt, der Schauspieler habe wieder an Bedeutung gewonnen. Diese an sich banale Beobachtung ergibt einen Sinn, wenn man sich mit Regisseuren wie Johan Simons, Jürgen Gosch und Jossi Wieler und Laurent Chétouane (sein formstrenger „Don Karlos“ aus Hamburg wurde nicht nominiert für Berlin) beschäftigt. Es gibt da keinen einheitlichen Stil. Aber man erkennt eine gewisse Zurücknahme der Regie: Diese Regisseure erreichen, dass man Schauspielern und Text zuhört, sie arbeiten mit weniger dominanten visuellen Reizen. Auch Thalheimer entwickelt sich in diese Richtung. Ulrich Matthes, der den George spielt in Goschs gefeierter „Virginia Woolf“, sagte kürzlich in seiner Dankesrede für den Eysoldt-Ring: „Eine gute Regie besteht sehr oft ,nur’ darin, dem Schauspieler sehr genau und sehr fordernd . . . zuzuschauen und zuzuhören, und im allerschönsten Fall ist eben das manchmal schon zu einem wesentlichen Teil die so genannte Konzeption.“ Auch das ist nichts Neues – aber es spricht einem großen Publikum aus der Seele.

Viele Wege führen nach Berlin – und immer mehr Wege woandershin. Die sieben Theatertreffen-Weisen reisen durch eine Landschaft, die sich stark verändert hat; das ist das Vatikanische der Berliner Traditionsveranstaltung, ihr Beharrungsvermögen. Wien prunkt im Mai und Juni mit einem konkurrenzlosen Festwochen-Programm: Uraufführungen von Christoph Marthaler, Johan Simons und Luk Perceval, Premieren von Frank Castorf und Peter Zadek. In München zeigten soeben zwölf Regisseurinnen und Regisseure unter dem Motto „Radikal jung“ ihre Inszenierungskünste. Als Leistungsschau der deutschsprachigen Stadt- und Staatsbühnen hat das Theatertreffen eine Relativierung erfahren. Die Trends, so es sie gibt, die neuen Stars, die Karriere: Da ist man nicht mehr auf Berlin angewiesen.

So geht es dem Theatertreffen wie dem Theater selbst. 2005 ist das Schillerjahr – und das Jahr Einsteins. Es hat sich herumgesprochen: Auch der Mikrokosmos Theater dehnt sich aus, es gibt nichts Absolutes, es gibt keine Klassik schlechthin. Verschiedene Beobachter machen an verschiedenen Orten verschiedene Beobachtungen, sie haben alle Recht. Man bekommt die Relativitätstheorie schon bei Shakespeare zu spüren. Das Hamlet-Wort „Die Zeit ist aus den Fugen“ meint nicht nur die dänische Heimat nach dem heimtückischen Königsmord. Sondern diese Welt, die sich frei macht vom Wahn der Symmetrie, des Mittelpunkts, der Sicherheit.

Berliner Theatertreffen, 6. bis 22. Mai 2005. Für das Rahmenprogramm sind noch Karten erhältlich. Restkarten jeweils an der Abendkasse. Eine Videoaufzeichnung von Andrea Breths Wiener „Don Carlos“-Inszenierung wird am 9. Mai, 20.30 Uhr, in der Kassenhalle des Festspielhauses gezeigt. Infos: www.berlinerfestspiele.de

Rüdiger Schaper

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