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Kultur: Elf Mal elf Minuten

Filmfest Venedig: Das Weltkino erzählt Geschichten vom 11.9.

In Sachen Irak mag die deutsche Solidarität mit Amerika zuletzt Einschränkungen erfahren haben, in Sachen Kino hält sie einstweilen: „11-09-01“, der Film, dem das mächtige Branchenblatt „Variety“ Antiamerikanismus vorwirft, kommt zwar in vielen Ländern am 11. September ins Kino, in Deutschland jedoch, wo sich immerhin letzte Woche der kleine Verleih Movienet fand, wahrscheinlich erst im November. Und in den USA vielleicht gar nicht – es sei denn, beim Festival von Toronto, wo er am 11. September zu sehen sein wird, setzt er sich vehement durch.

Warum schließlich sollte ein Film, der ein Welt-Beben mit Epizentrum Amerika zum Thema hat, ausgerechnet in Amerika nicht zu sehen sein? Auf dem Filmfestival Venedig hatte „11-09-01“ nun Weltpremiere. Und das Letzte, was man diesem aus elf Elfminutenbeiträgen bestehende Episodenwerk von elf Regisseuren vorhalten könnte, wäre das Etikett „antiamerikanisch“. Allerdings: Proamerikanisch sind die Beiträge von Sean Penn (USA), Alejandro Inarritu (Mexiko), Ken Loach (Großbritannien), Claude Lelouch (Frankreich), Danis Tanovic (Bosnien), Idrissa Ouedraogo (Burkina Faso), Youssef Chahine (Ägypten), Amos Gitai (Israel), Samira Makhmalbaf (Iran), Mira Nair (Indien) und Shohei Imamura (Japan) auch nicht. Sondern mal pazifistisch, mal medienkritisch, mal impressionistisch, mal humanistisch – und ein paarmal stellen sie, bei aller Trauer über die Opfer des 11. September, auch kritische Fragen an Amerika. Und an die ganze so genannte zivilisierte Welt.

Wer bekommt das Kopfgeld?

Alle Regisseure waren vollkommen frei in ihrer Wahl, und so frei wie sie sollte man dieses einzigartige Projekt auch betrachten. Anders als die Medien, die in diesen Tagen weltweit mit gewaltigem Aufwand den kollektiven Schock des Anschlags reaktivieren, rühren die Filmregisseure an tiefere Traumata – auch an jene, die neben dem Ereignis fortbestehen.

Danis Tanovic lässt eine Gruppe von Witwen aus Srebrenica trotz der soeben im Radio gesendeten Nachricht zu ihrem allmonatlichen Schweigemarsch aufbrechen. Idrissa Ouedraogo fragt fast heiter – fünf Jungs entdecken Osama bin Laden auf einem Marktplatz und wollen ihn fangen –, wie vielen Menschen im vergessenen Afrika mit den 25 Millionen Dollar Kopfgeld für den Top-Terroristen geholfen werden könnte. Und Ken Loach schließlich erinnert, im Kondolenzbrief eines Londoner Exil-Chilenen an die Angehörigen der Opfer, leidenschaftlich an einen anderen 11. September – jenen 11. September 1973 in Chile, als die USA die frei gewählte kommunistische Regierung Allende aus dem Präsidentenpalast bomben ließen.

Schmerzhafter Gegenschnitt

„Feinde der Freiheit haben unser Land angegriffen“ – dieser Satz des US-Präsidenten George W. Bushs am Abend des 11. September hat in Chile, wo nach dem Pinochet-Putsch 30000 Menschen starben, bis heute einen eigenen Klang. Auch wenn die anderen Regisseure im schmerzhaften Gegenschnitt zum Weltschock des letzten Jahres nicht so weit gehen wie Ken Loach – sie alle stehen für ein Kino, das seine ästhetischen und gedanklichen Impulse, seine Zweifel und seine Hoffnungen von überallher auf der Welt sendet. Sie sollten auch überall zu empfangen sein. Die Welt geht nicht unter, wenn die US-Verleiher diesen Film boykottieren – aber ein weiteres Alarmzeichen für die eng gewordene amerikanische Weltwahrnehmung dieser Tage wäre es allemal.

Jan Schulz-Ojala

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