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Thomas Cole: "Weg des Imperiums - Vernichtung" (1836).

© culture-images/fai

Migrationsdebatte in England: Brexit oder Barbarei

In England ist ein Streit darüber entbrannt, wie die römische Zivilisation unterging. Die Debatte liegt im postfaktischen Trend – geht es doch um die Einwanderer von heute.

Verfall von Kultur und Sitten, schleichender Niedergang, Apokalypse? Schuld sind die Barbaren. Sie waren es, die einst das Römische Reich überrannten, mordeten und brandschatzten und die europäische Zivilisation zurückstießen in ein dunkles Zeitalter. Nicht umsonst lautet das Synonym für blinde Zerstörungswut bis heute Vandalismus, benannt nach einem germanischen Volksstamm, den Vandalen. Anschließend ging das Wissen, wie man eine Kuppel baut, Fußbodenheizungen anlegt oder die Wasserversorgung einer Stadt plant, für tausend Jahre verloren.

„Stimmt“, twitterte jetzt der britische Geschäftsmann Arron Banks. „Das Römische Imperium ist durch Einwanderer zerstört worden.“ Der Millionär hat die „Leave.EU“-Kampagne gegründet und die Brexit-Partei Ukip mit Spenden gefördert. Der Brexit, sagt er, war die letzte Chance, Großbritannien „aus den Händen einer liberalen Elite zu retten, die ihr eigenes Land hasst“. Vor allem soll der Brexit das Land davor bewahren, von den neuen Barbaren okkupiert zu werden, den Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan. Ohne Freizügigkeit für EU-Bürger wird England endlich wieder zur Insel werden.

Hätten die Römer also ihr Weltreich nur stärker abschotten müssen, um es vor dem Untergang zu retten? „Ich glaube, Sie hätten etwas mehr über römische Geschichte lesen müssen“, widersprach die Althistorikerin Mary Beard aus Cambridge. „Das ist ein Feld, auf dem es darauf ankommt, etwas zu wissen, vielleicht sogar auf Expertise.“ Zwischen Banks und Beard, die mit ihren BBC-Dokumentarserien „Ultimate Rome“ und „Meet the Romans“ zur populären Geschichtsentertainerin geworden ist, entwickelte sich ein Twitter-Schlagabtausch über den Wert von Fakten und Expertentum. Am Ende war es reines Kabarett.

Wenn Meinung mehr zählt als Quellen

Denn während Beard darauf beharrte, dass Banks sein Wissen wohl hauptsächlich aus Sandalenfilmen habe und ihm „SPQR“, ihr Buch über die tausendjährige Geschichte des Imperiums (die deutsche Ausgabe ist vor Kurzem bei S. Fischer erschienen), schenken wollte, versicherte der Unternehmer, dass Geschichte sein Lieblingsfach gewesen sei und er Robert von Ranke-Graves’ Roman „Ich, Claudius, Kaiser und Gott“ gelesen habe – komplett, nicht bloß die Einleitung. Auf dieser Grundlage formuliert er geschichtsphilosophische Gedanken: „Roms Untergang ist ein Gegenstand der richtigen Auslegung, wie das Ende der Sowjetunion. Geschichtsschreibung hängt von Meinungen ab, und jeder schreibt seine eigene Version davon.“ Beards trockene Erwiderung: „Sie haben starke Meinungen, aber Ahnung von der Römischen Geschichte haben Sie nicht.“

Wenn Meinungen mehr zählen als historische Quellen, befinden wir uns auf dem Feld postfaktischer Selbstgewissheiten. Gefühlte Geschichte. Alexander Gauland, Vizevorsitzender der AfD, hatte schon im November 2015 vor einer Völkerwanderung nach Deutschland gewarnt und die Flüchtlingsbewegungen mit dem Untergang des Römischen Reiches verglichen, „als die Barbaren den Limes überrannten“. Solche Zuspitzungen bedienen das Klischee vom „Völkeraustausch“, den wahlweise UN, EU oder Merkel planen würden. Gauland spricht auch von „menschlicher Überflutung“. Ursprünglich handelte es sich bei „Umvolkung“ um einen NS-Begriff, mit dem die „Germanisierung des Ostraumes“ gemeint war.

Barbaren ist ein Wort aus dem Altgriechischen, das sich mit Stammler oder Stotterer übersetzen lässt. Es wurde zum Schimpfwort für kulturlose Ausländer, die nicht oder nur schlecht Griechisch sprachen. Die Römer übernahmen den Terminus und benutzten ihn für alle Menschen, die außerhalb der Grenzen ihres Weltreichs lebten. Das Römische Reich mussten die Barbaren allerdings nicht überrennen. Sie waren ja bereits drin.

Transformation statt Untergang

Weil sie die Grenzen ihres Staates, der im zweiten Jahrhundert seine größte Expansion erreichte, nicht mehr alleine verteidigen konnten, warben die Römer nichtrömische Söldner an, Foederaten genannt, darunter Franken, Sachsen und Westgoten. Viele erhielten nach ihrem Kriegsdienst das römische Bürgerrecht. Im Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz, der Stadt, in der einst eine große römische Legion untergebracht war, lässt sich sogar das Grabmal eines syrischen Kriegsveteranen besichtigen.

Mary Beard spricht statt von Untergang von einer „Transformation“. Es waren vor allem innere Konflikte, an denen das alte Rom zerbrach. Das Imperium überdehnte sich, Britannien, das sie vergeblich durch den Hadrianswall zu schützen versuchten, wurde für die Römer laut Beard „zu einer Art Afghanistan“ mit Guerillakrieg und Terroranschlägen. Die Macht des Zentrums erodierte immer mehr, die Grenzlegionen mit ihren Generälen stellten Kaiser, die oft nur wenige Monate regierten und dann ermordet wurde. Seit der Gründung von Konstantinopel im Jahr 330 war das Reich zweigeteilt. Von Hyperinflation und Hungersnöten gar nicht zu reden.

„Am Ende“, schreibt der Historiker Greg Woolf, „fiel das Reich in sich zusammen und zog sich zurück, aber natürlich nicht nach Rom, sondern nach Byzanz.“ Rom hatte aufgehört, Rom zu sein, auch wenn die Herrscher von Byzanz – dem ehemaligen Konstantinopel und heutigen Istanbul – weiter beanspruchten, Kaiser von Ostrom genannt zu werden. Das einstige Imperium schrumpfte im siebten Jahrhundert auf ein kleines Territorium rund ums Mittelmeer zusammen.

Um die These, Rom und seine Kultur seien von Barbaren hinweggefegt worden, zu widerlegen, reicht es aus, in die ehemalige Hauptstadt zu fahren. Die Menschen dort sprechen nicht Fränkisch, Alemannisch oder Mittelhochdeutsch, sondern Italienisch, eine romanische Sprache.

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