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Kultur: Entvölkerung: Vor den Menschen sterben die Städte

Von Berlin bis Wladiwostok stehen überall die gleichen Plattenbauten. Ihre Sanierung ist eine Jahrtausendaufgabe.

Von Berlin bis Wladiwostok stehen überall die gleichen Plattenbauten. Ihre Sanierung ist eine Jahrtausendaufgabe. Schrumpfende, ja sterbende Städte gibt es auch in Deutschland. In Hoyerswerda beispielsweise steht jede fünfte Wohnung leer, jeder dritte Bürger ist seit der Wende weggezogen. Die ersten Massenwohnungsbauten werden bereits abgerissen - allerdings kostet hierzulande selbst der Abriss 100 Mark pro Quadratmeter.

Entvölkerte Städte prägen heute das Bild Sibiriens. Idyllisch war es in den nordsibirischen Siedlungen allerdings auch schon zu den Zeiten nicht, als sie noch funktionierten. Mittlerweile hat sich die Situation jedoch dramatisch verschlechtert: Wirtschaftliche Monostrukturen, anhaltender Bevölkerungsschwund, steigende Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt massenhafter Alkoholismus machen den Städten zu schaffen, die einst im Zuge der Industrialisierung von 1955 bis 1975 in Nord-Sibirien entstanden. Im gerade in diesen Tagen besonders menschenfeindlichen Klima mit eisigem Wind und metertiefem Bodenfrost wächst buchstäblich kein Gras mehr.

Besonders Nikita Chrustschow hatte die Binnenkolonialisierung zu seinem politischen Ziel gemacht. An ökonomischer Diversifizierung mangelt es den sibirischen Städten heute ebenso wie an guter Verkehrserschließung. Der Moskauer Subventionstropf ist im post-sowjetischen Russland versiegt. Nicht weniger der sibirischen Städte wurden von Insassen der berüchtigten sibirischen Straflager des GULAG errichtet. Der Aufbau folgte strikt den Prinzipien des modernen Städtebaus, vor allem der Funktionsentmischung.

Der "Hinterhof" des russischen Imperiums reicht vom Ural bis zum Pazifik und vom Polarmeer bis zur Mongolei. Im über 7000 Kilometer weiten Sibirien besteht kein Zwang zur Schaffung urbaner Dichte. Acht Tage braucht man für diese Strecke mit der Eisenbahn. Dem "Prinzip der Schafherde" folgend, stehen die Plattenbauten in den Zentren der sibirischen Städte kompakt beieinander, nur die riesigen Datschensiedlungen erhöhen den Flächenverbrauch.

Die sibirischen Städte waren jahrelang Tabuzonen; ihre Entstehungsgeschichte und heutige Wirklichkeit sind außerhalb Sibiriens kaum bekannt. Dieses noch unbestellte Feld sozialistischer Stadtbaugeschichte wird nun erstmalig wissenschaftlich analysiert. Seit drei Jahren wird an der TU Cottbus die Typologie und Gestalt der sibirischen Städte am Forschungsschwerpunkt "Die blauen Städte der Sowjetunion" erforscht. Im Rahmen dieses Forschungsschwerpunkts fand unlängst im Russischen Haus Berlin eine zweitägige Konferenz zu diesem Thema statt.Dabei wurde herausgestellt, dass das sibirische Siedlungsnetz genau den Ressourcen folgt. Die Städte wurden generalstabsmäßig geplant und einseitig auf Industrie ausgerichtet: In Westsibirien zur Ausbeutung der reichen Erdöl- und Gasvorkommen, im Osten für große Wasserkraftwerke. Einzelne Siedlungen sind dem (Gold-)Bergbau oder der Holzwirtschaft gewidmet. Ausgehend von den Städten entlang der Transsibirischen Eisenbahn wurden neue Verkehrstrassen nach Norden geführt und in der Nähe großer Rohstoffvorkommen Neustädte angelegt. Die Besiedlung folgte einem sich verzweigenden Schema von Schwerpunkt- und Basisstädten über ständige Siedlungen bis zu mobilen Ortschaften. Die Millionenstadt Nowosibirsk, größte Stadt Sibiriens, ist einst schneller gewachsen als New York, wie Gennadij Tumanik von der Universität Novosibirsk mit Stolz erzählte.

Bis in die achtziger Jahre hinein wurden ambitionierte Generalpläne für die Besiedlung Sibiriens erstellt. Die Planungen werden noch immer überwiegend im fernen Moskau oder St. Petersburg gemacht. Auftraggeber sind heute die Konzerne und Ministerien. Der Konzern "Gazprom" etwa ist der größte Städtebauer Russlands. Die "blauen Städte" waren einst Symbole der Industrialisierung und Aushängeschilder russischer Prosperität. Sie kämpfen seit der Perestroika trotz ihres Rohstoffreichtums wegen der überkommenen kolonialen Wirtschaftsstruktur mit ökologischen und sozialen Schwierigkeiten.

Mittlerweile haben die großen Öl- und Gaskonzerne mit Umsiedlungsprogrammen begonnen und nehmen den systematischen Abriss der Städte in Angriff. Während bisher jahrzehntelang Arbeitskräfte aus allen Teilen des Landes in den Norden gelockt worden waren, bemüht man sich heute, die Arbeitskräfte wieder in den Süden zurück zu siedeln.

Ziel des Symposiums war es, aus Sicht der Städte-, Raum- und Regionalplaner und Sozialwissenschaftler einen Überblick über die Transformation zu schaffen und Erfahrungen über den Umgang mit postsozialistischen Städten auszutauschen. Es war viel von der Übertragung von Planungs-Knowhow, Lösungsansätzen und Voraussetzungen für nachhaltige Stadtentwicklung, Entwicklungschancen und tragfähigen städtebaulichen Strukturen, Stärkung der Regionen durch Stadtplanung und Planernetzwerken die Rede. Ob die reflexhaft hervorgebrachten westlichen Konzepte von Stadtmarketing und -management und "zeitgemäßen Leitbildern" dem Umbau in Sibirien tatsächlich helfen? Die deutschen Großsiedlungen sind meist Trabantenstädte in der Nähe historischer Altstädte. Ihr Umbau fällt leichter als der der technokratischen Pionierstädte in Sibirien. Dort brachte der "Sturz" in den Kapitalismus in den vergangenen zehn Jahren Unsicherheit und wirtschaftlichen Niedergang mit sich, aber auch die Chance zur Neuorientierung des "wilden Ostens". Es war das Verdienst der Berliner Konferenz, das vernachlässigte Thema in die internationale Planerdiskussion einzuführen. Die Frage allerdings, ob der Untergang der "Wegwerfstädte" am Ende nicht einfach hinzunehmen sei, wurde nicht gestellt.

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