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Erich Mühsam als Häftling im KZ Oranienburg, Februar 1934.

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Erich Mühsam und seine Tagebücher: Verschwistert mit der Ewigkeit

Vor 80 Jahren, am 10. Juli 1934, wurde der Dichter Erich Mühsam im KZ Oranienburg ermordet. Er schrieb Dramen, Pamphlete, Gedichte und Chansons, doch sein Hauptwerk erscheint erst jetzt: die grandiosen Tagebücher.

Am Ende, heute vor achtzig Jahren, haben sie ihn totgeschlagen. Die Männer von der SS-Wachmannschaft hängten seine Leiche auf und behaupteten, er habe Selbstmord begangen. Aber der Häftling Erich Mühsam starb am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg an den Folgen nackter Gewalt. „Und ich sage euch, dass wir, die wir hier versammelt sind, uns alle nicht wiedersehen“, hatte Mühsam in seiner letzten Rede prophezeit, gehalten im Februar 1933 vor dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller. „Wir sind eine Kompanie auf verlorenem Posten. Aber wenn wir hundertmal in den Gefängnissen verrecken werden, so müssen wir heute noch die Wahrheit sagen, hinausrufen, dass wir protestieren.“

Da ist es noch einmal zu spüren, das Pathos und das Nichteinverstandensein eines einzelgängerischen Wortführers, der sich nicht abfinden mochte mit den Verhältnissen und mit der Barbarei der Nationalsozialisten schon gar nicht. „Nolo“ hatte er einen programmatischen Text genannt, der bereits 1902 erschienen war. Nolo kommt aus dem Lateinischen und heißt „Ich will nicht“, Mühsam schwor: „Jeder Satz soll ein Ringen sein nach Befreiung.“

Als er am 28. Februar 1933, dem Tag nach dem Reichstagsbrand, in seiner Wohnung in Berlin-Britz verhaftet wurde, war der Koffer für die Reise ins Exil nach Prag schon gepackt. Es folgte ein 16-monatiger Passionsweg durch das Gefängnis an der Lehrter Straße, das KZ Sonnenburg, das Gefängnis Plötzensee und das KZ Brandenburg ins KZ Oranienburg. Nach ihrem ersten Besuch bei ihm im April 1933 schrieb seine Ehefrau Zenzl: „Mühsam war schrecklich zugerichtet. Ich hatte es schwer, mein Entsetzen vor ihm zu verbergen. Er saß auf einem Stuhl, hatte keine Brille auf – man hatte sie ihm zerbrochen –, die Zähne waren ihm eingeschlagen.“ Die SA- und SS-Männer hassten ihn nicht nur, weil er ein Jude und Anarchist war, sondern auch, weil er 1919 zu den Anführern der Münchner Räterepublik gehört hatte.

Erich Mühsam hat zu Lebzeiten knapp zwei Dutzend Bücher veröffentlicht, Dramen, anarchistische Pamphlete, Gedicht-, Chanson- und Liedsammlungen. Er gab die Zeitschriften „Kain“ und „Fanal“ heraus, schrieb Satiren für die Zeitschriften „Simplicissimus“ und „Ulk“. Der Lyriker geriet nie ganz in Vergessenheit, man hat vielleicht noch ein paar Zeilen seines „der deutschen Sozialdemokratie“ gewidmeten Spottgedichts „Der Revoluzzer“ im Ohr: „War einmal ein Revoluzzer, / Im Zivilstand Lampenputzer; / ging im Revoluzzerschritt / mit den Revoluzzern mit.“

Aber das Hauptwerk erscheint erst jetzt, es sind Mühsams Tagebücher aus den Jahren von 1910 bis 1924, die der kleine Berliner Verbrecher-Verlag seit 2011 publiziert. Die Edition soll im Herbst 2018 mit dem 15. Band abgeschlossen werden, gerade ist man beim sechsten Band und im Revolutionsjahr 1919 angekommen (siehe nebenstehenden Text). Mühsams Aufzeichnungen, die mehr als 6000 Druckseiten umfassen, sind eine herausragende Zeitchronik und ein hinreißender Lebensroman, in ihrer Bedeutung vergleichbar mit den Diarien der Brüder Goncourt. Gleichzeitig mit der Print-Version erscheinen die Texte auch online, hervorragend aufgearbeitet und mit Register, Almanach und Anmerkungen versehen (http://www.muehsam-tagebuch.de/tb/addons.php).

Eine Abteilung des Werdenfelser Freikorps in Tracht, die mithalf, die Räterepublik blutig zu beenden, auf dem Marsch durch die Straßen Muenchens, 1919.
Eine Abteilung des Werdenfelser Freikorps in Tracht, die mithalf, die Räterepublik blutig zu beenden, auf dem Marsch durch die Straßen Muenchens, 1919.

© Heinrich Hoffmann / picture-alliance / dpa

„Der Himmel ist klar und voll Sternen, aber über die Akademie ragt der Rand einer weißen Wolke, in der es unaufhörlich blitzt“, notiert Mühsam am 3./4. August 1914. „Und es ist Krieg. Alles Fürchterliche ist entfesselt. Seit 3 Tagen rasen die Götter.“ Naturbeschreibung, Himmelsdeutung und Mythologie: ein literarischer Rundumschlag in fünf Zeilen. Es ist auch ein Wiederbeginn, denn zuvor hatte der in München ein gemütliches Boheme-Leben führende Autor sein Tagebuch für 21 Monate unterbrochen.

Aber jetzt ist es wieder Zeit, Einspruch zu erheben, erneut „Nolo“ zu sagen. Inmitten eines patriotischen Taumels, der auch Intellektuelle wie Thomas Mann, Gerhard Hauptmann oder Alfred Kerr erfasst, bleibt Erich Mühsam einer der wenigen Skeptiker. Er versucht, „das Ungeheuerliche des Kriegs in Worte zu fassen“, indem er die Hysterie seiner Mitmenschen registriert, die in jedem Fremden einen Spion zu erkennen glauben, was zu Prügeleien und Lynchmobszenen führt.

Mühsam wird gemustert, aber nicht einberufen, der chauvinistische Druck führt zu Depressionen: „Für keinen Menschen gibt es eine andere Frage als Kalkulationen, wie wir am leichtesten möglichst viele russische, französische und englische Menschen töten können.“ Dass in einem Lager Kriegsgefangene für 20 Pfennig besichtigt werden können, widert ihn an. Aber der Schriftsteller sorgt sich auch um seine Verlobte Jenny, die im ostpreußischen Eydtkuhnen vermisst wird, dem ersten deutschen Ort, den russische Truppen erobert haben. Dass er in einer Erklärung zur Einstellung seiner Zeitschrift „Kain“ die Russen als „fremde Horden“ geschmäht hat, bedauert er bald als „Eselei“.

Ein Bohemien, so lautet Mühsams Definition, sei ein Mensch, „der drauflos geht im Leben, mit dem Zufall experimentiert, mit dem Augenblick Fangball spielt und der allzeit gegenwärtigen Ewigkeit sich verschwistert“. Eine Selbstbeschreibung. 1878 in Lübeck geboren, stammte Mühsam aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, flog als 17-Jähriger wegen „sozialdemokratischer Umtriebe“ vom Gymnasium und brach 1901, mit 22 Jahren, die Laufbahn eines Apothekers ab, um sich fortan als Schriftsteller und Kabarettist durchzuschlagen. In Berlin fand er Anschluss an die von den Brüdern Heinrich und Julius Hart gegründete Autoren- und Künstlervereinigung „Neue Gemeinschaft“, verkehrte im als „Café Größenwahn“ verspotteten Café des Westens und freundete sich mit den Dichtern Peter Hille und Paul Scheerbart sowie dem Anarchisten Gustav Landauer an. Ab 1909 lebte er in Schwabing, dem Münchner Stadtteil, der in diesen Jahren mit Lokalen wie dem Café Stefanie, der Torggelstube, dem Simpl oder dem Café Luitpold zum Zentrum der deutschen Boheme aufstieg.

Mühsams Hass auf die bürgerliche Gesellschaft resultierte aus dem Hass auf seinen Vater, einen Lübecker Apothekenbesitzer, der den Sohn dafür verachtete, dass er, anstatt ihm nachzufolgen, als Künstler leben wollte. Derlei Familienkonflikte sind typisch für das wilhelminische Deutschland, so wie Mühsam erging es vielen seiner Zeitgenossen. „Die Boheme ist eigentlich nicht viel mehr als ein Sammelbecken für Söhne, die aus der Welt der Väter geflohen sind“, schreibt der Mühsam-Biograf Chris Hirte.

Politik kommt erstaunlich wenig vor in seinen ersten Tagebüchern. Bis Siegfried Mühsam 1915 stirbt, ist das Tagebuch durchzogen von den Spuren des Vater-Sohn-Konflikts. „Es steigt etwas wie Hass in mir auf, wenn ich daran zurückdenke, wenn ich mir die unsagbaren Prügel vergegenwärtige, mit denen alles, was an natürlicher Regung in mir war, herausgeprügelt werden sollte“, erinnert sich der Sohn an seine Kindheit. Er habe „den Erlesenen in mir“ gefühlt, „dem unter allen Großes vorbehalten war“, aber der Vater griff zu allen Mitteln der schwarzen Pädagogik, um dieses Gefühl zu unterdrücken. Drohungen, Verhöre, oft wird der Vater handgreiflich.

Eng verbunden mit den Gedanken an den Vater ist das andere große Boheme-Thema: die Finanznot, der „ewige Dalles“, ein Klagen über Entbehrungen („Ich aß zum Abendbrot einen Rettich, weil mein Geld zu Größerem nicht reichte“) und Rapportieren der Versuche, Geld zu „pumpen“ oder Bekannte „anzubohren“. Mühsams Hoffnungen richten sich auf den Tod des herzkranken Vaters und eine Erbschaft, die ihm finanzielle Unabhängigkeit verschaffen würde. Bis dahin  muss er sich mit einem monatlichen Zuschuss von hundert Mark begnügen, von einem Mann, den er für einen Millionär hält und der ihm in Briefen bescheinigt, alle seine schriftstellerischen Unternehmungen trügen „den Stempel der Unreife“. „Ich muss bei Gott das Alter meines Vaters teuer bezahlen“, zürnt Mühsam und versichert an anderer Stelle: „Ich werde, solange dieser Vater lebt, keine Freude erleben“.

Erich Mühsam in den zwanziger Jahren. Über sich selbst reimte er in "Der Gefangene": "Ich hab's mein Lebtag nicht gelernt, mich fremdem Zwang zu fügen.Jetzt haben sie mich einkasernt, von Heim und Weib und Werk entfernt. Doch ob sie mich erschlügen: Sich fügen heißt lügen!"
Erich Mühsam in den zwanziger Jahren. Über sich selbst reimte er in "Der Gefangene": "Ich hab's mein Lebtag nicht gelernt, mich fremdem Zwang zu fügen.Jetzt haben sie mich einkasernt, von Heim und Weib und Werk entfernt. Doch ob sie mich erschlügen: Sich fügen heißt lügen!"

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Das glaubt der Leser allerdings keinen Moment, denn es ist ein fiebriges, manchmal bitteres, aber zumeist freudenreiches Leben, das da ausgebreitet wird. Besonders auf dem Feld der Erotik tut sich Mühsam hervor, sein Liebesleben ist eine große Tragikomödie. „Weiber, süße Weiber! Liebe, süße Liebe!“, jubelt er, gesteht: „bin faunisch geil“, berichtet vom „Poussieren“, vom „Unterricht im Küssen“ und von handfestem Sex: „So habe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Deflorierung vorgenommen“. Cafébekanntschaften, Ehefrauen, Schauspielerinnen und Zimmermädchen sind die Objekte seiner Obsession. Man verliert rasch den Überblick über die Affären.

Allein in den ersten beiden Bänden der Tagebücher erlebt der Held Abenteuer mit Frauen, die Emmy, Irma, Kätchen, Uli, Margot, Lene, „die Vallière“, Ella, Anny, Sonja, „Consul“, Betty, Julchen, Muschi, Pepperl, Maxi, Frl. Dr. Gellert oder „Puma“ heißen. Auf Freiersfüßen stürzt er sich in Ausgaben für Blumen, Parfüm und „Chokolade“. Einmal träumt er davon, „eines  Tages Frank Wedekinds Schwager“ zu sein, dabei hat er mit der Schwester von dessen Frau noch nicht einmal ein Wort gewechselt. Auch seine bisexuelle Vergangenheit verschweigt Mühsam nicht. Eine Zeit lang hat er in Zürich mit dem Schriftsteller Johannes Nohl zusammengelebt. Und seine Frage „Wie ist es bloß denkbar, dass ich so maßlos wenig Glück bei den Frauen habe?“ ist nicht so absurd, wie es zunächst scheint. Mühsam trauert einer großen, „ewigen“ Liebe hinterher, und eine Berliner Schauspielerin, mit der er sich verlobt, trennt sich von ihm. Auf Dauer kann er keine Frau an sich binden. Bis ihm Zenzl - Kreszentia Elfinger - begegnet, die er im September 1915 heiratet.

Begeistert studiert Mühsam die Diarien des Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense aus der Zeit vor der Revolution von 1848. „Damals lohnte es noch Tagebücher zu schreiben! Trotz der Armseligkeit der vormärzlichen Politiker – welche bewegte Zeit! Welche Beziehung zwischen Geistigkeit und Öffentlichkeit! Welche Teilnahme der großen Geister (Varnhagen, Humboldt, Tieck, Bettina v. Arnim usw.) an den Geschehnissen des Tages!“. Damit verglichen sei seine Gegenwart „interesselos“. Was für ein Irrtum. Christian Schröder

Erich Mühsam: Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch. Verbrecher Verlag, Berlin 2014. 345 Seiten, 16 €. – Am 10. Juli lädt das Museum Neukölln zu einer Lesung aus den Kriegstagebüchern ein, 19 Uhr. Am 12. Juli findet ein Erich-Mühsam-Fest mit über 80 Künstlern auf sieben Bühnen in der Zukunft am Ostkreuz statt, ab 16.30 Uhr.

Wut und Trauer

Erich Mühsam als Häftling im KZ Oranienburg, Februar 1934.
Erich Mühsam als Häftling im KZ Oranienburg, Februar 1934.

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Erich Mühsams „Haft-Tagebuch“ aus dem Jahr 1919

„Wie wird der Kampf enden, was wird aus meinem Werk, was aus mir, den meinen, meiner Arbeit, meiner Habe, aus der Zukunft werden?“ Das fragt sich Erich Mühsam im Frühjahr 1919. Die Revolution ist niedergeschlagen, er sitzt als „Hochverräter“ im bayrischen Zuchthaus Ebrach. Trauer und Wut bestimmen seine Gefühle in den Haftnotizen, die jetzt als neuer Band (April bis November 1919) der Tagebuch-Edition vorliegen. Er „blickt im Geiste um sich“ und sieht „lauter Tote, lauter Ermordete – es ist grauenhaft“. Immer neue Schreckensmeldungen dringen zu ihm durch: „Mit den Münchner Schandtaten“, also dem Militärputsch gegen die Räterepublik, habe der sozialdemokratische Reichswehrminister Noske „sogar seine Berliner Blutorgien übertroffen“, notiert Mühsam am 7. Mai. Er hat Glück, dass er „nur“ zu 15 Jahren (nach fünfeinhalb kam er frei) Festungshafthaft verurteilt und nicht ermordet wurde wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht oder seine Münchner Gefährten Gustav Landauer, Rudolf Egelhofer und Eugen Leviné.

Als vor drei Jahren die ersten Mühsam-Notizen aus den Jahren 1910/1911 erschienen, hieß es, der Anarchist komme hier „ganz ohne die Phrase der Agitation“ aus und die Beschreibung der Schwabinger Boheme sei wunderbar ironisch. Im Nachtleben schien die Gefahr eines Trippers größer als das politischer Auseinandersetzungen. „Mühsam macht Spaß“, hieß es, und der „Spiegel“ kündigte eine Sex-Enthüllung mit dem Titel „Der Anarchist und die Mädchen“ an. Doch spätestens seit den Kriegstagebüchern macht Mühsam keinen „Spaß“ mehr.

Für ihn steht fest: „Deutschlands Rüsterei, der unstillbare Ehrgeiz, die europäische Militärhegemonie zu sein, hat das Unglück verschuldet.“ Seine Distanzierung von den Bellizisten klingt nur noch moralisch empört. So ist die Versenkung des englischen Passagierdampfers „Lusitania“ im Mai 1915 für ihn „eine Übergreuelung der Greuel“. Mit U-Boot-Kriegsbegeisterten wie Ludwig Thoma oder Thomas Mann bricht er danach den Kontakt ab. Seine Wertschätzung für Heinrich Mann dagegen wächst; der sei „bedeutender und wertvoller als sein Bruder“.

Als eine Nebengeliebte die „Lusitania“-Opfer nicht bemitleidet, beendet er das Verhältnis und heiratet die politisch loyale Langzeitfreundin Kreszentia Elfinger (Zenzl). „Diese Frau hat mir der Himmel selbst geschickt“, notiert er im Zuchthaus. Zenzl schickt ihm Kassiber und informiert ihn auch über eine SPD-Veranstaltung mit Noske im Weimarer Nationaltheater. Dazu fällt ihm nur ein: „Armer Goethe!“ Mühsam hält sich lieber an „Dantons Tod“: „Welche Herrlichkeit und wieviel Parallelen zur Gegenwart.“ Vielleicht klingt darin schon eine Vorahnung seines eigenen Schicksals an. Willi Jasper

Erich Mühsam: Tagebücher. Band 6 (1919). Verbrecher Verlag, Berlin 2014. 462 Seiten, 28 €.

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