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Kultur: Erinnerung in Orange

Ende vom Aufbruch? Ab heute wird in der Ukraine über Neuwahlen beraten / Von Andrej Kurkow

Jetzt, wie immer nach der Osterwoche, finden in der Ukraine die „Gedenktage“ statt. Alle fahren zu den Friedhöfen, zu den Gräbern ihrer Verwandten und Freunde, und decken dort die Tische. Wie es Sitte ist, wird getrunken, ohne mit den Gläsern anzustoßen. Und wie es Sitte ist, wird gegessen, ohne über Politik zu sprechen. Politik – das ist Eitelkeit, und auf dem Friedhof will man sich mit den wahren, den letzten Dingen auseinandersetzen.

Ich erinnere mich an die politische Eitelkeit des Herbstes 2004, die unter dem Namen „Orangene Revolution“ in die Geschichte einging. Ich denke gerne an diese Zeit zurück. Drei Wochen verbrachte ich mit Freunden auf dem Maidan Nesaleschnosti, dem Platz der Unabhängigkeit, in einem Buchladen, wo eine Gruppe jüngerer ukrainischer Schriftsteller Butterbrote schmierte und Tee kochte, für alle, die in den Laden kamen, um sich aufzuwärmen. Man diskutierte offen über die politische Zukunft der Ukraine. Ich erinnere mich an die erregten, energiegeladenen Menschen, die zum Debattieren in den Laden kamen. Sie waren mit eigenem Geld nach Kiew gereist, hatten Urlaub von der Arbeit genommen und glaubten, dass von jedem von ihnen die Zukunft der Ukraine abhänge. Sie ließen sich in der Zeltstadt fotografieren, posierten für die ausländischen Kamerateams und benahmen sich wie die Eigentümer des Landes.

Damals glaubten alle an einen Kampf zwischen prorussischen Kräften, die die Ukraine dem russischen Imperium zuschlagen wollten, und proeuropäischen Politikern, die das Land unbedingt in die EU und die Nato integrieren wollten. Heute, zwei Jahre später, stehen auf dem Maidan wieder Zelte, wieder marschieren Demonstranten, nur tragen sie jetzt alle Weiß-Blau: die Farben der „Partei der Regionen“, der Machtbasis von Premierminister Viktor Janukowitsch. Orange sieht man kaum noch. Die neuen Demonstranten lassen sich auch nicht mehr fotografieren. Sie wurden mit Zügen und Bussen in die Stadt gebracht, bekommen 20 Euro am Tag und werden in Formation zum Maidan und zum Übernachten zurück in ihre Zelte gebracht. Sie dürfen weder Bier noch Wodka trinken, sonst werden ihnen die 20 Euro gestrichen. Sie sind den Trubel längst leid, aber da, wo man sie hergeholt hat, ist es unmöglich, 20 Euro am Tag zu verdienen.

Auf dem benachbarten Europa-Platz steht eine Tribüne für die Demonstranten des orangenen Lagers. Sie ist leer. Manchmal ziehen 200, 300 Studenten und Vertreter von Jugendorganisationen vorbei, schwenken ihre orangenen Flaggen und ziehen weiter in die Parks am Dnjepr. Eigentlich hatten die Orangenen gewaltige Protestmärsche nach Kiew angekündigt, aber es wurde nichts draus. Entweder hatten sie Angst, dass das Volk ohne Geld nicht mehr kommt, oder die Provokation seitens des Regierungslagers um Janukowitsch hat sie zurückschrecken lassen.

Übrigens, an Russland denkt in letzter Zeit niemand mehr. Am allerwenigsten wünschen sich die ostukrainischen Oligarchen, die Janukowitschs „Partei der Regionen“ finanzieren, eine Annäherung beider Länder. Russland ist ein reiches, starkes Land, das sich schon lange die Finger leckt nach den Gaspipelines der Ukraine, nach ihren Fabriken und Metallkombinaten. Würde man die Ukraine für die russische Wirtschaft öffnen, dann bliebe hier nichts Ukrainisches übrig, nicht einmal ukrainische Oligarchen. Das verstand sogar Ex-Präsident Leonid Kutschma, der im Zuge der Nachwendeprivatisierungen die ukrainische Wirtschaft nahezu kostenlos den ihm nahestehenden Oligarchen überließ, anstatt sie für viel Geld den Russen zu überantworten.

Von einer prorussischen Politik Viktor Janukowitschs ist heute nicht mehr die Rede. Beide, Juschtschenko und Janukowitsch, wollen in einer europäischen Ukraine leben. Nur die Wähler der „Partei der Regionen“, die Bewohner des ukrainischen Südens und Ostens, sind tatsächlich prorussisch (oder sogar prosowjetisch) eingestellt. Deshalb verspricht Janukowitsch ihnen das Russische als zweite Amtssprache, die politische Annäherung an Russland und den Kampf gegen einen ukrainischen Nato-Beitritt. Mit solchen Wahlversprechen jagt er den Kommunisten die Stimmen ab. Bei seinen Auftritten aber formuliert er keinerlei Einwände gegen die europäische Ausrichtung der ukrainischen Außenpolitik, er spricht sich nicht einmal gegen eine Annäherung an die USA aus, obwohl Russland solche Worte sehr gefallen würden. Vielleicht haben die Russen deshalb in den letzten zwei Jahren eine kleine, nicht mal im ukrainischen Parlament vertretene Partei unter der Leitung von Natalja Witrenko finanziert, die in ihren Reden gegen die Nato, die USA und die proeuropäischen Politiker des Landes wettert – und dabei sogar den vordergründig nicht allzu proeuropäischen Viktor Janukowitsch kritisiert. Seltsamerweise räumen die russischen und weißrussischen Fernsehkanäle ihr mehr Sendezeit ein als allen anderen ukrainischen Politikern zusammen.

Jetzt, wo das Volk die Politiker leid ist und nur noch für Geld auf die Straße geht, befindet sich das Land in einer merkwürdigen Pattsituation. Die Wirtschaft wächst, die Leute arbeiten, aber die beiden politischen Lager lähmen sich gegenseitig. Ungeachtet des Präsidentenerlasses weigert sich das Parlament, sich selbst aufzulösen. Die zentrale Wahlkommission hat die Vorbereitung von Neuwahlen eingestellt. Und das Verfassungsgericht beginnt heute nur widerwillig seine Beratung über die Rechtmäßigkeit der Parlamentsauflösung.

Es scheint, als müsse Präsident Juschtschenko wieder eine Abmachung mit seinem Gegner Janukowitsch treffen. Nur dass es diesmal schwierig sein dürfte, eine politische Regelung zu finden, die es beiden erlaubt, ihr Gesicht zu wahren. Neuwahlen wird es wohl geben, aber nicht im Frühling, sondern eher im Herbst. Die Gewinnerin könnte Julia Timoschenko heißen – was weder Juschtschenko noch Janukowitsch recht sein kann.

Der größte Verlierer wird Parlamentssprecher Alexander Moros sein, der Chef der Sozialisten, der 2006 aus dem orangenen Lager auf Janukowitschs Seite wechselte. Seine Partei liegt in Umfragen derzeit bei 1,8 Prozent, die Sperrklausel für das Parlament beträgt drei Prozent. So quittiert das ukrainische Volk Moros’ Verrat. Das Dumme ist nur, dass so viele ukrainische Politiker bereit sind, von einem Tag auf den anderen ihre politischen Ansichten zu wechseln.

Andrej Kurkow lebt als Schriftsteller in Kiew. Er war einer der Wortführer der orangenen Revolution. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Roman „Die letzte Liebe des Präsidenten“ (Diogenes). – Aus dem Russischen von Jens Mühling

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