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A.F.Th. van der Heijden.

© dpa

Erinnerungsprosa: Requiem für meinen Sohn

Ein so kurzes, schönes Leben darf nicht einfach ins Vergessen absinken: Der niederländische Schriftsteller A. F. Th. van der Heijden erinnert sich mit „Tonio“ an seinen tödlich verunglückten Sohn. Das Buch ist Liebeserklärung und Totenklage zugleich.

Am Pfingstsonntag, den 23. Mai 2010, stoßen in den frühen Morgenstunden an einer Kreuzung in Amsterdam ein Auto und ein Radfahrer zusammen. Der Radfahrer stirbt später im Krankenhaus. Ein Unfall, wie er überall auf der Welt vorkommt. Der Lokalpresse ist er, wenn überhaupt, gerade mal eine Meldung wert ist. So auch hier. Die niederländische Tageszeitung „Het Parool“ fasst den Unfallhergang kurz zusammen und platziert darüber die Nachricht, dass in Amsterdam die Führerscheine billiger werden.

Der Radfahrer war der Sohn des niederländischen Schriftstellers A.F. Th. van der Heijden, der fast 22-jährige Tonio. Der Vater versucht gleich nach dem ersten Schock, „mit Hilfe von rituellem und assoziativem Schreiben möglichst viel von seinem Leben zu erhalten (...) Sein kurzes, schönes Leben darf nicht einfach ins Vergessen absinken, so wie sein schöner geschundener Leib in die Erde gesunken ist“. Entstanden ist so ein Buch, das van der Heijden einen „Requiemroman“ nennt. Für dessen Lektüre braucht es Stärke, weil sie einem, ob man nun Kinder hat oder nicht, immer wieder die Kehle zuschnürt. Hier zeigt sich ein Mensch ungeschützt, hilflos; auch die Literatur bietet dem Schriftsteller nur einen ungenügenden Schutzraum. „Tonio“ besteht aus Erinnerungen an den für immer verlorenen Sohn, rekonstruiert dessen letzte Stunden, protokolliert die Trauer und enthält überdies autobiografische Reflexionen sowie ältere Tagebuchnotizen.

Das Buch beginnt gleichsam mit einem langgezogenen Schrei nach dem Sohn, ein Schrei, der bis zur letzten Seite nachklingt. Für ihn als Schriftsteller habe die Antwort auf den Verlust das Schreiben über Tonio sein müssen, ist sich van der Heijden sicher. Doch dieses Schreiben, fügt er an, „kann keine Antwort sein, denn es wurde keine Frage gestellt. Das macht den Verlust noch grauenerregender: dass er keine Frage enthält, sondern nur ein Ausrufezeichen wie ein messerscharfer Eiszapfen“.

Als es bei van der Heijden und seiner Frau Mirjam Rotenstreich am Pfingstsonntag kurz vor neun klingelt und zwei Polizisten die Nachricht von dem Unfall überbringen, gibt es noch Hoffnung. Tonio werde gerade im AMC-Krankenhaus operiert, er sei in einem „kritischen Zustand“. An dieser Formulierung versucht van der Heijden sich aufzurichten. Er schildert die Fahrt in die Klinik, die Gespräche mit Schwestern und Ärzten, seine Gefühlszustände und die seiner Frau zwischen Hoffen, Verzweiflung und Ungewissheit. Und er unterbricht die Schilderung mit Erinnerungen an die erste Zeit seiner Ehe, an die Geburt Tonios, an frühere Urlaube, an den 8-Jährigen, mit dem er bei einer seiner Lesungen Bücher signierte. Er notiert, wann er ihn zuletzt gesehen hat, wie sie über Tonios (abgebrochenes) Fotografiestudium und dessen Kultur- und Medientechnologiestudium gesprochen haben.

Nachmittags um fünf erweist sich dann jede Hoffnung als trügerisch. Die Ärzte können nichts mehr machen. Bevor sie die Beatmung abstellen, lassen sie Tonio auf die Intensivstation bringen, damit seine Eltern sich von ihm verabschieden können: „Es fiel mir schwer, mir nun ausgerechnet dieses Bild von Tonio, wie er dort lag, für den Rest meines Lebens einzuprägen. Erhob nur der letzte Eindruck, den jemand hinterlassen hat, Anspruch auf Gültigkeit?“ Dagegen wehrt sich van der Heijden, dagegen schreibt er an.

Bald stellt er fest, dass sein Requiem die Form einer „krimiähnlichen Rekonstruktion“ annimmt. Tatsächlich weist das Buch eine strenge, auch literarische Komposition auf, die Struktur eines Romans. Es gibt scheinbar ungeordnete, sich unwillkürlicher Erinnerungen verdankende Reminiszenzen an Tonios Kindheit und Jugend. Es gibt Beschreibungen, wie van der Heijden und seine Frau ihren Schmerz jeden Abend aufs Neue mit viel Alkohol bekämpfen, es gibt Reflexionen über den Sinn des Lebens und des Weiterlebens, die stetigen Fragen nach der eigenen Schuld an diesem Drama.

Doch all das ist keineswegs nur assoziativ. An einer Chronologie festhaltend und Puzzlestück für Puzzlestück zusammensetzend, berichtet van der Heijden von den Begegnungen mit eben jenen Menschen, mit denen Tonio die Unglücksnacht verbracht hat – und mit jener jungen Frau namens Jenny, mit der er sie eigentlich hatte verbringen wollen. Drei Tage zuvor hatte er ein Fotoshooting mit ihr in seinem Elternhaus.

Der Schriftsteller und seine Frau machen sich auf die Suche nach dem Fahrrad und anderen Hinterlassenschaften, reden noch einmal mit der Polizei und dem behandelnden Chirurgen, schauen sich das Video an, auf dem die Überwachungskamera eines an der Kreuzung gelegenen Spielsalons den Unfall festgehalten hat. All diese Konfrontationen mit dem Tod des Sohns kosten stets aufs Neue Überwindung. Doch van der Heijden will den Schmerz zulassen, ihm begegnen, ihn nicht nur überwinden. Einen Ausweg gibt es nicht, auch kein Nachlassen des Schmerzes: „Was nachlässt, ist nicht, was hinter uns liegt, sondern was sich, schrumpfend, vor uns erstreckt: die übriggebliebene Lebenszeit.“

Ob er diese weiterhin schreibend und an Romanprojekten arbeitend verbringen wird, diese Frage stellt sich der Autor gleich mehrmals. Eine Antwort steckt in den letzten hundert Seiten des Buchs. Sie erinnern an Szenen aus van der Heijdens großem Romanzyklus „Die zahnlose Zeit“. In „Tonio“ führt er erneut ein großes, die Nation in Atem haltendes Ereignis mit einem individuellen Schicksal parallel: die Rückkehr der niederländischen Fußballnationalmannschaft, die in Südafrika Vizeweltmeister wurde und nun bei einer Bootstour durch Amsterdam bejubelt wird. Er und seine Frau nehmen an den Feierlichkeiten teil, um sich in deren Schutz die Unfallstelle anzusehen: „Zwei Meter unterhalb der Straße fuhr, derselben Biegung folgend, das Mannschaftsboot mit Fußballstar Robin vorbei – auf dem Weg zu der Siegesfeier am Museumsplein. Meine Erinnerung an die beiden kleinen Jungen beim Schulhaus in Marsàles nahm Tonios Tod oder Robins Triumph nichts weg und führte ihnen nichts hinzu. Es war, was es war.“

Die Familie van der Heijden kennt die Familie des Fußballers Robin van Persie von einem Urlaub, van Persies ältere Schwestern waren ganz vernarrt in Tonio. Doch der Autor versagt es sich nicht nur an dieser Stelle, die Ungerechtigkeit der Welt anzuprangern. Selbstmitleid und Wut auf vermeintliche Schuldige, die man zur Verantwortung ziehen könnte, zur Not auf die „Präzisionsschläge des Schicksals“, helfen ihm nicht weiter. Als Schriftsteller, als einstiger, als künftiger, fühlt er sich explizit gescheitert, denn „sein bestes Stück Prosa“, wie er Tonio einmal nach einer Trauergedichtzeile Ben Jonsons nennt, ist auf ewig verloren.

Trotzdem versucht A.F. Th. van der Heijden mit jeder Zeile dieser grandiosen Liebeserklärung und Totenklage, seinen „aus dem Traum des Lebens entwischten“ Sohn aufzuspüren und wiederzufinden. Er will dem Tod die Stirn zu bieten. Am Ende lässt er Tonios Freundin Jenny das letzte Wort. Sie glaubt, „dass die Toten eine bestimmte Energie für uns zurücklassen“. Und wenn es nur die Energie für diesen so kunstvollen wie schrecklich berührenden Requiemroman ist.

A.F. Th. van der Heijden: Tonio.

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 672 Seiten, 26,90 €.

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