zum Hauptinhalt
Ausschnitt aus dem Buchcover "Jahrgang 1902" von Ernst Glaeser

© Wallstein Verlag

Ernst Glaesers Roman „Jahrgang 1902“: Die verrufene Generation

Ernst Glaesers Roman "Jahrgang 1902" war ein Sensationserfolg über eine verlorene Generation. Jetzt ist der deutsche Bestseller in einer sorgfältigen Neuausgabe wieder zu entdecken.

Wie fühlte es sich an, 1914 ein junger Mensch zu sein? Das erfährt man nicht aus historischen Werken, sondern aus Romanen wie Ernst Glaesers „Jahrgang 1902“, der mit einer Hunderttausenderauflage zum Sensationserfolg des Jahres 1928 wurde und jetzt in einer sorgfältigen Neuausgabe wiederzuentdecken ist.

„Jahrgang 1902“ – das war die Generation derer, die zu jung für den Einsatz in der Materialschlacht waren und den Krieg an der Heimatfront nachspielten. Die Hungerjahre und die große Desillusionierung nahmen sie als prägende Jugenderfahrungen mit. Jahrgang 1902, das ist aber auch die spätere „Generation Nationalsozialismus“, es sind die Dreißigjährigen von 1933, die jungen Dynamiker des NS-Staats. Gestalten wie Himmler (1900), Heydrich (1904) und Goebbels (1897) gehören in diesen Umkreis. Von daher ist der Roman auch als frühes Psychogramm einer erst verlorenen, dann verrufenen Generation zu lesen.

Glaeser entfaltet ein beklemmendes Sittenbild

Aus der Perspektive eines zwölfjährigen Schülers werden die letzten Monate vor dem Kriegsausbruch in einer südwestdeutschen Kleinstadt geschildert. In Episoden und Typen entfaltet sich die wilhelminische Gesellschaft mit ihren sozialen Spannungen; Typen, wie man sie ähnlich aus Heinrich Manns „Untertan“ kennt. Bei Glaeser erlebt man sie zwar auch leicht karikiert, aber doch mit weniger satirischer Distanz. Durch den ausgelieferten Blick des Jungen wirken sie plastischer und bedrohlicher. Da ist der militaristische Sportlehrer Brosius, der einen kränklichen jüdischen Schüler schikaniert, da sind der tückische Polizeichef Dr. Persius mit seinen weißen Handschuhen und eine Reihe weiterer Amtsträger, die für deutsche Weltgeltungsansprüche bei provinziellem Habitus stehen. Ein erstaunlich positives Bild des Adels verbindet sich mit dem weltläufigen Major von K.; das wackere Proletariat verkörpert sich im Heizer Kremmelbein, der sich in den Nachtstunden zum „wissenschaftlichen Sozialismus“ weiterbildet. Der Tuchhändler Silberstein wird mit antisemitischem Argwohn beobachtet: Hisst er am Nationalfeiertag nicht die deutsche Flagge, heißt es, ein Jude sei eben „vaterlandslos“, hängt er sie doch heraus, gilt er als cleverer jüdischer Geschäftsmann.

Beklemmende Zeitdiagnosen. Der Erzähler Ernst Glaeser (1902-1963).
Beklemmende Zeitdiagnosen. Der Erzähler Ernst Glaeser (1902-1963).

© Wikipedia

Mehr als der drohende Krieg machen dem sexuell völlig unaufgeklärten Jungen die ersten Einschläge der Pubertät zu schaffen. Was ist das für ein schreckliches „Geheimnis“, das hinter den Fassaden des bürgerlichen Anstands lauert? Es gibt eine hilflose kleine Liebelei und homoerotische Übersprungshandlungen, aber sie bringen ihn der Wahrheit nicht näher. Dann macht ihn ein sadistischer Metzgersbursche auf schockhafte Weise mit den Tatsachen vertraut. Sexualität und Krieg sind in diesem Roman die angstmachenden Monster der Erwachsenenwelt – ein beklemmendes Sittenbild.

Der Krieg, das sind unsere Eltern

Die Zuspitzung des Sommers 1914 verpackt Glaeser geschickt in eine beinahe komödienhafte Handlung. Die Mutter des Jungen will nichts hören von dem „langweiligen“ Kriegsgeschrei. Sie liest „grundsätzlich“ keine Zeitungen, sondern Hugo von Hofmannsthal. Gegen alle Warnungen fährt sie noch im Juli mit dem Sohn in ein Schweizer Kurhotel. Dort freundet er sich mit einem gleichaltrigen Franzosen an. Die beiden Jungen sind sich einig: „La guerre, ce sont nos parents!“ – der Satz wird zum Motto des Romans. Doch dann lassen die mit der Julikrise wachsenden Feindseligkeiten zwischen den Kurgästen auch diese Freundschaft nicht mehr zu. In den Tagen der Mobilisierung reisen Mutter und Sohn übereilt ab und schaffen es mit dem letzten Zug zurück nach Deutschland. Diese Reisebeschreibung liest sich wie eine Live-Reportage aus einem Land im Ausnahmezustand der Kriegseuphorie, die gerade an den Bahnstrecken frenetisch war (geweint wurde eher in Hinterzimmern). Das letzte Drittel des Romans schildert die Kriegsjahre. Der Jubel in der Kleinstadt verfliegt schnell, als der Pfarrer als „Briefträger des Todes“ immer mehr Gefallenen-Meldungen austrägt, viele Väter der Kinder darunter. Dann kommt der große Hunger, der in Deutschland 700 000 Menschenleben kostete.

Hemingway: "Ein verdammt gutes Buch"

Auch wenn Glaesers Darstellung gelegentlich ins Stereotype und Plakative tendiert – der Roman hinterlässt starken Eindruck, die Beschreibungen sind atmosphärisch, die Szenen prägnant, die Sprache wirkt unangestaubt, knapp und pointiert, beeinflusst vom Ton der Neuen Sachlichkeit. Man hat bei der Lektüre die Geschehnisse vor Augen, als würde man einen Film sehen. Dass „Jahrgang 1902“ zum Bestseller wurde, verdankt sich neben den literarischen Qualitäten aber auch der damals zeitgemäßen Sicht auf das wilhelminische Kaiserreich als Unheils- und Untertanenstaat. Eine Sicht, die charakteristisch für die Weimarer Republik war, die sich in vielem als Antithese zum Kaiserreich verstand. Das bringt gewisse Verzerrungen ins Bild; immerhin sehen die patriotischen Franzosen im Schweizer Hotel in ihrem Gehabe den wilhelminischen Deutschen zum Verwechseln ähnlich.

Die Kaiserreichschelte aber wurde in Zusammenhang mit der Kriegsschuldfrage auch außerhalb Deutschlands gern gehört und hat den großen internationalen Erfolg des Romans befördert, der rasch in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurde. „Ein verdammt gutes Buch“, urteilte Ernest Hemingway. 1933 wurde es mit den Werken von Kästner und Remarque verbrannt. Ernst Glaeser (1902-1963) ging in die Emigration, wo seine Lage immer heikler wurde. 1939 kehrte er nach Deutschland zurück – die Nazi-Propaganda hatte auf solche Reumütigen nur gewartet und spannte den einst Verfemten nun für ihre Zwecke ein. Auch das ist eine Geschichte des Jahrgangs 1902.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false