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Kultur: Ernst-Otto Czempiel sieht die Staatenwelt auf dem Rückzug. Wird Außenpolitik damit überflüssig?

Die Friedens- und Konfliktforschung ist ein typisch deutsches Geschöpf. Sie verdankt ihre Bedeutung einem Regierungswechsel.

Die Friedens- und Konfliktforschung ist ein typisch deutsches Geschöpf. Sie verdankt ihre Bedeutung einem Regierungswechsel. Die sozialliberale Koalition unter Kanzler Brandt war ihre Hebamme, die Entspannungspolitik ihre Nabelschnur. An der hängt sie noch immer. Im Koalitionsvertrag der neuen Regierung ist ihre Förderung festgeschrieben. Doch ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung, die sich von der Friedens- und Konfliktforschung die Rolle der Leitwissenschaft versprach, wurde früh vor Entscheidungen gestellt, bei denen ihr das Fach nicht mehr bieten konnte als die wohlfeile Wahrheit, soweit - wie im Kosovo - hätte es nicht kommen dürfen.

Ob es der Friedens- und Konfliktforschung gut getan hat, dass sie durch Regierungsgunst in eine quasi-offizielle Rolle gehoben wurde, ist fraglich. Sie läuft Gefahr, sich in eine auf Affirmation bedachte Disziplin zu wandeln. Behauptung und Selbstbehauptung als Schule - darauf scheint auch das Buch von Otto Czempiel angelegt zu sein. Aber vielleicht bin ich zu empfindlich gegenüber Anmaßungen wie der, dass "richtige Politikberatung und auch Geld" die Probleme mit Russland schon ins Lot bringen werde. Es ist solcher Leichtsinn, der einem da die Sprache verschlägt, wenn Russland wie in Tschetschenien Amok läuft.

Czempiel versucht, die wissenschaftliche Überlegenheit der Friedens- und Konfliktforschung über ihre nur scheinbar "realistischen" Konkurrenten zu untermauern. Die alles entscheidende Grundthese besteht in der Behauptung, die Staatenwelt sei durch die Gesellschaftswelt abgelöst worden: "In ihr dominieren die Bedürfnisse der Gesellschaften und ihre Anforderungen an die politischen Systeme. Deswegen ist die Welt von Bürgerkriegen gekennzeichnet, während der Krieg weitgehend verschwunden ist." Der Friedensforscher merkt gar nicht, dass er einen Zirkelschluss zu einem analytischen Urteil erhebt. Wenn die Grenzen der Staatenwelt festliegen, müssen auch Kriege um die Staatsbildung als Bürgerkriege erscheinen. Grenzen liegen in der UN-Ordnung, nicht aber in der wirklichen Welt wirklich fest. Viele der "Bürgerkriege" sind heute Kriege um die Staatsbildung. Wie immer man die Kriege im Kosovo, in Ost-Timor, in Tschetschenien begreift, eines haben sie gemeinsam: Es sind keine Bürgerkriege, bei denen es um die Herrschaft in einem territorial gefestigten und in seinen Grenzen dauerhaft umrissenen Staat geht. Statt durch die Gesellschaftswelt abgelöst zu werden, befindet sich die Staatenwelt seit 1989 an vielen Punkten in heftiger Bewegung.

Czempiel folgt einer doppelten Annahme: Die Staatenwelt erscheint ihm in sich gefestigt und am Verschwinden. So kommt er zu dem hoffnungsvollen Schluss: "Wo Interdependenz herrscht, muss die Außenpolitik zu Strategien greifen, die in der Innenpolitik angewendet werden." Außenpolitik als politische Verkehrsform zwischen Staaten wird zu einer überholten Übung erklärt. Damit wird aber das Chaospotential in der gegenwärtigen internationalen Ordnung systematisch unterschätzt.

Die Phänomene, die Czempiel als Beweisgrundlage für seine These anführt, sollen keineswegs bestritten werden. Es ist wahr, dass auch in Serbien die Satellitenschüssel auf Empfang steht, aber die Köpfe füllt das staatliche Fernsehen. Das Internet kann von den abstrusesten Sekten genutzt werden, die Globalisierung kann fragmentierend auf Regionen, Staaten und selbst Städte wirken.

Es gibt keinen linearen Fortschritt von der Staatenwelt zur Gesellschaftswelt. Selbst innerhalb der EU gibt es außenpolitischen Verkehr. Umgekehrt: Ohne eine gewisse Stabilität der Staatenwelt wird sich die Gesellschaftswelt nicht entfalten können. Ohne die Staatenunion der EU keine Unionsbürgerschaft. Das dürfte eigentlich Czempiel nicht verborgen geblieben sein, wenn er die Bedeutung von Rechtsformen und von Demokratie hervorhebt. Wie sie sich ohne Staatsform und damit außerhalb der Staatenwelt entwickeln könnten, bleibt nämlich rätselhaft. Es sieht fast so aus, als wolle Czempiel mit der Außenpolitik die Politik ganz abschaffen.

Wenn die Kriege im früheren Jugoslawien einfach Bürgerkriege wären, dann hätte das segensreiche Wirken von Nichtregierungsorganisationen vielleicht schnell Frieden stiften können. Es waren aber ethnisch aufgeladene Staatsbildungskriege, in denen von serbischer Seite Grenzen verschoben und in neuen Grenzen "ethnische Reinheit" geschaffen werden sollte. Auf allen Seiten ging es um Territorien, um Staatsmacht ausdehnen oder erst generieren zu können. Die Staatenwelt ist nicht einfach "vergangen", sie ist nicht einmal einigermaßen gesichert. Die territorial gefestigten, mehr oder weniger demokratischen Staaten werden mit vorbürgerlichem und antibürgerlichen Anforderungen konfrontiert, in den jungen, territorial umstrittenen Staaten werden der gleichen Staatsangehörigkeit Zugehörigkeiten gegenüber gestellt, die viele dieser Staaten zu zerreißen drohen.

Der Tendenz zur Gesellschaftswelt, die es ohne Frage gibt, entspricht eine Tendenz der Ethnifizierung der Staatsmacht. Beide Tendenzen sind "modern". Es bleibt schleierhaft, wie man angesichts der Schwierigkeiten der Vereinten Nationen frohgemut den Sieg der Gesellschaftswelt ausrufen kann. Dieser friedensproklamatorische Fundamentalismus, der seine Zuversicht aus dem Gang der Welt selbst zu schöpfen meint, lässt einen nicht etwa an den guten Absichten, wohl aber gelegentlich an den gutgemeiten Ratschlägen Czempiels zweifeln. Auch der Friedensforschung ist es nicht gelungen, die Klugheit zu pachten.Ernst-Otto Czempiel: Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert. C.H. Beck Verlag, München 1999. 274 Seiten. 48 DM.

Joscha Schmierer

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