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Kultur: Erst schweigen, dann verdrängen

Wir Kinder des Zweiten Weltkriegs: Ein Frankfurter Kongress sucht nach den Traumata

Sechzig Jahre nach Kriegsende: Das „Dritte Reich“ ist medial präsent wie lange nicht. Dafür gibt es gute Gründe – und schlechte. Manch einer will endlich auch Opfer sein und strickt an der Legende von einer Tabuisierung deutschen Kriegs und Nachkriegsleids. Dass es aber auch andere, ernster zu nehmende Ursachen für die Beschäftigung mit Luftkrieg und Vertreibung gibt, zeigte jetzt ein eindrucksvoller Kongress in Frankfurt am Main.

Eine von zahlreichen wissenschaftlichen Institutionen gebildete bundesweite Studiengruppe „Kinder des 2. Weltkriegs“ hatte in die Universität auf dem Campus Westend geladen, an jenen Ort also, an dem zunächst der IG-Farben-Konzern und dann die amerikanischen Besatzer ihr Hauptquartier hatten. „Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa sechzig Jahre nach Kriegsende“ sollte interdisziplinär beleuchtet werden, und der Andrang wissenschaftlicher Interessenten wie Betroffener war groß.

Dabei schwebte die Frage über der Tagung, wie man mit dem traumatischen Leid der Kriegskinder umgehen soll, ohne das singuläre Leid der Naziopfer auf der Ebene individuell erlebten Unglücks zu parallelisieren. In seiner Begrüßungsansprache äußerte Dieter Graumann von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt Unbehagen darüber, dass die Holocaust-Opfer unter den Themen der zahlreichen Workshops so gut wie nicht vorkämen. Seine Warnung vor einem „Einheitsopferbrei“ machte zwar zu Recht auf ein Ungeschick der Veranstalter aufmerksam. Doch waren die Vorträge und Diskussionen von jeglicher „Opferkonkurrenz“ frei.

Warum die mit Evakuierung, Ausbombung und Vertreibung verbundenen Traumatisierungen gerade in diesen Jahren ans Tageslicht drängen, erklärte der Psychoanalytiker Hartmut Radebold. Ein Viertel der deutschen Bevölkerung ist heute um die sechzig Jahre alt, Kriegskinder stellen den größten Teil der älteren Bevölkerung. Radebold zufolge wiesen die Kinder nach dem Krieg noch für einige Jahre Verhaltensstörungen auf, dann fanden sie, unterstützt durch das Schweigen der Erwachsenen, zu einer scheinbaren Normalität. Schnell mussten sie selber zu Erwachsenen werden, in vielen Fällen obendrein ihre Mütter psychisch stabilisieren. Doch die Hoffnung auf ein „Auswachsen der Erfahrung“ trog. Heute, wo die Angehörigen der Kriegskindergeneration in Rente gehen, wo die „Stabilisierung durch Arbeit“ entfällt, entwickeln sie auf einmal massenhaft Depressionen, Angstzustände, Schlafstörungen, Bindungsstörungen.

Wobei die Therapeuten wohl selber häufig therapiebedürftig wären. Die Kasseler Psychoanalytikerin Gertraud Schlesinger-Kipp hat Kollegen zum Erbe der NS-Zeit in ihrem Leben befragt. Sie berichtete von regelrechten Erinnerungsausbrüchen bei ihren Gesprächspartnern, ein Arzt sprach gar plötzlich mit der Stimme eines Kindes. Das Fazit auch hier: Die Eltern der Kriegskinder haben Schuld- und Schamgefühle und traumatische Erlebnisse „beschwiegen“, die Kriegskinder haben sie verdrängt. So kommt es erst heute zu einer Wiederkehr des Verdrängten.

Auch verschwiegene Erfahrungen werden über die Generationen weitergegeben. Auf einen unerwarteten Zusammenhang stieß die Sozialwissenschaftlerin Michaela Köttig bei jungen rechtsextremen Frauen. War sie eigentlich davon ausgegangen, die Entstehung entsprechender politischer Haltungen auf aktuelle soziale Lagen zurückführen zu können, stellte sie in Interviews ausnahmslos eine erhebliche Bedeutung der Familienvergangenheit fest. Die Großeltern und speziell die Großväter wurden von den Enkelinnen als Opfer der NS-Zeit idealisiert – oder aber zu bedeutenden Nazi-Größen zurechtfantasiert. Auf schwache oder bösartige Väter reagierten diese Mädchen, indem sie eine an den Großvätern orientierte familiale Kontinuität herstellten.

Kaum ein Vortrag machte die Last des Generationenzusammenhangs so anschaulich wie jene Dame aus dem Publikum, die das Mikrofon ergriff und sinngemäß feststellte: „Ich habe meinen Vater geliebt – und dann erfahren müssen, dass er an Gräueltaten beteiligt war. An diesem Konflikt bin ich fast zerbrochen.“ Immer wieder wurde darauf verwiesen, wie viel von der Unsicherheit und Ambivalenz, die ein solches Familienerbe bewirkt, wohl unbewusst an die nächste Generation weitergegeben wird.

In dieser Ambivalenz liegt der Schlüssel, der eigenes Leid mit fremder Schuld und, in historischer Perspektive, indirekt mit den Opfern nationalsozialistischen Vernichtungswahns verbindet. In einem prägnanten Vortrag verwies Micha Brumlik auf die allerhöchsten Ansprüche an die „Ambivalenztoleranz“, mit denen das kollektive Gedächtnis konfrontiert sei. In der Vorstellung‚ man müsse „endlich auch der deutschen Opfer öffentlich gedenken“, sah Brumlik nur eine letzte Verdrängung. Stattdessen müsse eine nationale Gedenkkultur beide Leidensspuren, die der Opfer und die der Angehörigen der Täter, so aufnehmen, dass daraus eine motivationsbildende Kraft auch für Migranten erwachsen kann, die mit der NS-Zeit keine familiengeschichtliche Berührung haben.

Diesen Gedanken griff Jörn Rüsen auf und forderte eine europäische Geschichtskultur, die ihre ethnozentrische Fixierung aufs national Eigene überwindet. Nicht in den Glanzlichtern der europäischen Kultur, sondern in ihrer Katastrophe liegt für Rüsen der entscheidende Impuls zu ihrer Weiterentwicklung. Wenn die Generation der Kriegskinder nun noch einmal zu sprechen beginnt, ist das nur gut: Jeder Zeuge treibt die Geschichte ein kleines Stück voran.

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