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Aleksandar Hemon kam 1964 in Sarajevo zur Welt und lebt seit Beginn der neunziger Jahre in den USA.

© Velibor Božović

Erzählen heißt leben: Aleksandar Hemons meisterhafter Roman „Die Welt und alles, was sie enthält“

Von Sarajevo bis Shanghai: Ein jüdischer Apotheker und ein muslimischer Tausendsassa werden in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs ein Paar. Hemon gelingt ein fantastisch vielschichtiges und vielstimmiges Buch.

Zum Beispiel die Geschichte über den armen Schlucker Husref, der mit seiner Frau Merima eines Nachts von Kanonenschlägen geweckt wird. Was da los sei, fragt sie ihn. Husref weiß, dass es in Sarajevo einen Aufstand gegen den Sultan gegeben hat und die Anführer alle geschnappt wurden.

Jetzt werden sie einer nach dem anderen hingerichtet, jeder Tod ein Kanonenschlag. Es handelt sich um die führenden Persönlichkeiten der Stadt, die Reichen und Mächtigen, so Husref. Seine Frau schweigt, deckt ihn dann mit der Decke zu und sagt: „Dank sei dem guten Allah dafür, dass du ein Nichts und ein Niemand bist.“

Erzählt wird diese Legende aus der Osmanenzeit von Osman Karišik, einem jungen Mann, der in Sarajevo als Waisenkind aufwuchs und sich mit allerlei kleinen Diensten in der Altstadt durchschlug – bis es ihn als Mitglied des 1. Bosnischen Regiments der österreich-ungarischen Armee in die östlichen Schützengräben des Ersten Weltkriegs verschlug. Hier hören ihm seine Kameraden dankbar zu, denn seine Sarajevo-Geschichten spinnen Erinnungsfäden in die gemeinsame Heimat und geben ihnen Hoffnung, sie einmal wiederzusehen.

Unter den Zuhörern Osmans befindet sich auch Rafael Pinto, ein Apotheker aus Sarajevo, aus dessen Sicht der 1964 in dieser Stadt geborene Aleksandar Hemon seinen Roman „Die Welt und alles, was sie enthält“ größtenteils erzählt.

Gleich zu Beginn wird dieser meist nur Pinto genannte junge Mann aus einer Familie sephardischer Juden zufällig Zeuge des tödlichen Attentats auf den österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie, das im Jahr 1914 am Beginn des Ersten Weltkriegs steht. Pinto ist nicht als Schaulustiger zugegen, sondern weil er einem stattlichen Rittmeister gefolgt war, dem er kurz zuvor in seiner Apotheke ein Pulver gegen seine Kopfschmerzen gegeben hatte – und zwei flüchtige Küsse.

Von Laudanum umnebelt, hatte Pinto in ihm einen Geliebten aus seiner Studienzeit in Wien zu erkennen geglaubt. Damals ist ihm endgültig klar geworden, dass sich sein Begehren allein auf Männer richtet. Und nun ist da dieser immer gut gelaunte Osman mit dem Schnurrbart, der beim Geschichtenerzählen zu ihm herüberschaut und irgendwann auch zu ihm ins Bett schlüpft.

Sie werden ein Liebespaar, das von Geschossdonner, Leid und Leichen umgeben ist. Es wird viel und grausam gestorben um sie herum. Aus Pintos Perspektive auf ein Schlachtfeld des Jahres 1916 geblickt, stellt sich das etwa so dar: „Bauchschuss – ein Wort, dessen Bedeutung Pinto schon während der ersten Woche in Serbien erfasst hatte. Eine weitere Granate detonierte, lautlos, wie es schien, und schleuderte einen Rucksack auf das Gesicht des reglosen Hauptmanns Zuckermann, dessen Bauch ein Knäuel von Gedärmen erbrach. Es gab auch den Kopfschuss. Und den Herzschuss. Blum wurde durch einen Mundschuss getötet. Herrlich, dieses Deutsch. Alles ließ sich darin zum Ausdruck bringen.“

Pinto hat die Sprache beim Studium in Wien gelernt, seine Muttersprache ist das Ladino der Sepharden, die einst aus Spanien vertrieben in Sarajevo heimisch wurden. Auch das dort übliche Bosnisch beherrscht Pino, und er wird im Laufe der mehrere Jahrzehnte umfassenden Romanhandlung noch einige zusätzliche Sprachkenntnisse erwerben. Aleksandar Hemon, hierzulande mit dem ebenfalls in die jüdische Geschichte seiner Heimatstadt führenden „Das Lazarus Projekt“ (2008) bekannt geworden, mischt Satzfetzen, Sprichwörter und Liedzeilen aus all diesen Sprachen – häufig unübersetzt – in seinen Text, dessen funkelnde Anziehungskraft zu einem nicht geringen Teil auf seiner fast schon musikalischen Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit beruht.

Pinto und Osman retten sich gegenseitig das Leben, geraten in Gefangenschaft, entkommen, erleben eine kurze Glückzeit in Taschkent und werden irgendwann auseinandergerissen. In eben dieser Nacht, wird Rahela geboren, deren Vater Osman vielleicht ist und deren Mutter bei ihrer Geburt stirbt. Pinto wird der Adoptivvater des Mädchens und driftet mit ihr weiter ostwärts, durch Revolutionen, Länder und Kriege – bis sie schließlich in Shanghai landen.

Der Erzähler tritt im Epilog ans Licht

Pinto bringt dem Mädchen seine Sprachen bei, erzählt von Sarajevo, dessen Existenz er nach all den Jahren insgeheim bezweifelt. Doch durch seine Geschichten bleibt es lebendig, genau wie er selbst. Und es kommen immer neue Anekdoten hinzu. Denn erzählen heißt leben, so lange Pinto es kann, kommt die viel zitierte „gran eskuridad“ noch nicht über ihn. Wobei ihm auch Osman – zu einer Stimme in seinem Kopf geworden – immer wieder hilft.

Hemon, der zwölf Jahre an diesem auf Englisch verfassten, von Henning Ahrens glänzend übersetzten Buch gearbeitet hat, erzählt das alles mit einer verblüffenden Leichtigkeit, was sogar für die untergemischten Abenteuer- und Spionageroman-Elemente gilt. Gelegentlich meldet sich zudem ein Erzähler-Ich zu Wort, verweist auf angebliche Quellen und historische Figuren, um schließlich im Epilog mit der vorgeblichen Geschichte hinter dem Roman ins Licht zu treten.

Dieser Erzähler (man könnte ihn auch als postmodernen Kniff bezeichnen) hat viel mit dem echten Aleksandar Hemon gemein, der der über dreijährigen serbischen Belagerung seiner Heimatstadt zu Beginn der Neunziger durch einen Zufall entging und seither in Chicago lebt.

Auf einem Literaturfestival in Jerusalem diskutiert dieser Hemon nun im Jahr 2001 mit einem deutschen und einem israelischen Kollegen darüber, wie Krieg und Leiden literarisch zu fassen seien und kommt zu dem Schluss: „Die einzige Möglichkeit, mit der Vergangenheit und mit fremden Erfahrungen umzugehen, besteht darin, sich diese vorzustellen und anschließend den Versuch zu unternehmen, sie erzählerisch zu verarbeiten, dies im Bewusstsein, dass man zwangsläufig scheitern muss, weil Geschichte keine strukturelle oder erzählerische Angelegenheit ist, sondern eine des Seins und Erlebens.“

Damit bringt er nicht zuletzt das poetologische Programm von „Die Welt, und alles, was sie enthält“ auf den Punkt. Das angesprochene Scheitern ist Aleksandar Hemon auf so berührende wie beglückende Weise gelungen.

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