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Kultur: Es muss nicht immer Mozart sein

So viel Jubiläum war nie: 2006 häufen sich die großen Geburts- und Todestage. Freie Auswahl: Wir feiern schon mal vor

Eine Tänzerin aus dem Mittleren Westen. Der schönste, klügste Bubikopf der Welt. Zu klug für Hollywood: Mit 25 Jahren war die Filmkarriere beendet. Ihre Stimme, meinte Paramount, sei für den Tonfilm nicht geeignet. Ein Racheakt, offensichtlich: Nach ihrer Rückkehr aus Deutschland passte ihr das amerikanische Studiosystem nicht mehr. G. W. Pabst hatte sie in Howard Hawks’ „A Girl in Every Port“ gesehen und nach Berlin geholt. Sie war 1928/29 seine Lulu. Louise Brooks : Und in gewisser Weise war jene Wedekind-Verfilmung auch für sie eine Pandora-Büchse. Nichts Gutes folgte. 1938 noch einmal ein Low-Budget-Film in Hollywood, „Overland Stage Raiders“, mit John Wayne, das Milchgesicht kannte damals noch keiner. Nachher tanzte sie in Nachtclubs, machte Radioshows, heiratete einen Millionär. Scheidung nach einem halben Jahr. Louise Brooks, die immerzu mit den Lulu-Fotos identifiziert wurde (wofür man Verständnis haben muss, denn sie war so verführerisch, dass man das ganze Wedekind-Weibs-Gewese endlich einmal begriff), begann zu schreiben. „Lulu in Berlin und Hollywood“, 1983, zwei Jahre vor ihrem Tod, auch auf Deutsch erschienen. Autobiografische Texte über „Humphrey und Bogey“, Greta Garbo (wenn die Schwedin die Göttliche war, dann war Louise die Irdische) W. C. Fields und G. W. Pabst. Schließlich fand sie auch das Schreiben wie einst das Filmen blöd: „Es ist eine nutzlose Übung, für Leser, die sich vom Publicity-Schund füttern lassen, die Wahrheit zu schreiben.“ Louise Brooks wurde am 14. November 1906 geboren. Es wäre gut, ihr in diesem Jahr ein paar Augenblicke zu reservieren: Man sieht sich wund an diesen Augen, man schneidet sich an diesem Pony.

Wer Symphonie denkt, meint Beethoven. Oder Bruckner oder Mahler. Wer Oper denkt, meint Verdi. Oder Wagner. Wer Lieder denkt, meint Schubert. Und ein bisschen Brahms. Wer Klavier denkt, meint Chopin, Liszt, Rachmaninow. Wer Kammermusik denkt, meint wiederum Beethoven, die späten Streichquartette, die Geigensonaten. Und wer die ganze Musik denkt, meint Bach. Oder Mozart. Robert Schumann meint man im Allgemeinen nicht, jedenfalls nicht auf Anhieb. Er ist der Meister der Mittelstimmen, ein Magier des Reflektierens. Ein poetischer Geist, der sich lange nicht entscheiden kann zwischen dem Dichten und dem Komponieren. Florestan und Eusebius. Ein Klaviervirtuose, der fingerbrecherische Folterwerkzeuge konstruiert, um sich technisch zu vervollkommnen – und seine rechte Hand damit restlos ruiniert. Ein Musiker und anerkannter Musikschriftsteller, der es sich gefallen lassen muss, als er seine Frau Clara auf Konzerttournee nach Russland begleitet, dass man ihn fragt, ob er wohl auch etwas mit Musik zu tun habe. Ein Genie, das Ämter bekleidet und eine zehnköpfige Familie ernährt. Seine Symphonien singen, seine Oper kennt keiner, seine Lieder emanzipieren das Klavier, seine Kammermusik kehrt das Innerste nach außen. Und selbst das Sterben will nur in der Ambivalenz gelingen: 1854 springt Robert Schumann bei Düsseldorf in den Rhein, zwei Jahre später, am 29. Juli 1856, stirbt er in der Nervenheilanstalt von Endenich bei Bonn. In völliger Umnachtung, wie es heißt. Christine Lemke-Matwey

Als Klaus Kinski (80. Geburtstag am 18. Oktober) zum ersten Mal in mein Leben trat, machte er mir Angst. Nebel wallten über den Bildschirm unseres Schwarzweißfernsehers, Bläsersätze peitschten, und ein drahtiger böser Mann schlich durch Kulissen im englischen Landhausstil. In der Hand baumelte das Tuch, mit dem er sein Opfer erwürgen würde, vielleicht warf er auch ein Messer. Oder waren es hungrig knurrende Raubkatzen, die er aus dem Käfig ließ? Den Titel des Films habe ich vergessen, es muss „Das Verrätertor“, „Neues vom Hexer“ oder „Der schwarze Abt“ gewesen sein, einer der sechzehn Edgar-Wallace-Filme, die Kinski drehte. Woran ich mich noch erinnere: Seine verlockend säuselnde Stimme und die riesigen Augen, mit denen er die Zuschauer zu verschlingen schien. Dass der Kinderschreck ein Künstler war, erfuhr ich später. In Käutners „Ludwig II.“ spielt er den irren Prinzen Otto von Bayern mit glasigem Blick, in „Doktor Schiwago“ rumpelt er als angeketteter Anarchist im Deportationszug nach Sibirien und schimpft auf die Spießer. Und dann die Werner-Herzog-Filme: Aguirre, Nosferatu, Fitzcarraldo. Extremkino, Filmkunstgipfel. Kinski war kein Schauspieler, er war ein Naturereignis. Die nächste Eruption schien jeden Augenblick möglich. Eben noch sanft und still, konnte er gleich darauf schreien und toben. Seine Kraft hatte einen vulkanischen Kern. Die großen Augen glühten. Christian Schröder

Als er vor einem halben Jahrtausend, am 20. Mai 1506, in Valladolid starb, war Christoph Kolumbus , Italiener in spanischen Diensten, 54 Jahre alt – und ein Narr. Glaubte der Seemann, der sich als Eroberer der „Westindischen Inseln“ am Hof Ferdinands II. hatte feiern lassen, doch bis zu seinem Lebensende, dass er im Inselreich Indochinas herumgeschippert war. Den Seeweg nach Indien hielt er für einen Katzensprung. Was wäre geschehen, wenn Kolumbus auf seiner vierten und letzten Westfahrt von der Karibik aus zum Pazifik vorgestoßen wäre? Man würde bis heute auf seine Rückkehr warten. Ein tragischer Fall. Der größte Entdecker seiner Epoche kapiert nicht, dass er ein Entdecker ist, als es ihn 1492 an die Küste der Bahamas verschlägt. Dabei hätte ihm der bemitleidenswerte Mangel an Gewürzen dort eine Warnung sein können. Aber Kolumbus ist so fixiert darauf, Aristoteles’ und Senecas Die-Erde-ist-eine-Kugel-Theorie zu beweisen, dass er blind ist für die Ausmaße, die diese Kugel eigentlich hat. Ein Kontinent, den keine Karte je gezeigt hat, liegt vor ihm: „Mundus Novus“, wie ein anderer Italiener unter spanischer Flagge das Neuland nennt. Erst 1507, ein Jahr nach Kolumbus’ Tod am ..... , erscheint in Lothringen eine Weltkarte, auf der erstmals eine neue Landmasse mit Namen „America“ verzeichnet ist, nach Amerigo Vespucci. Für Indien war Kolumbus’ Irrtum ein Segen. Was wäre aus dem Land geworden, wenn es einem vergleichbaren Besiedelungs- und Ausplünderungsprogramm unterworfen worden wäre? Was aus Kolumbien wurde, sieht man. Und da ist Kolumbus nicht einmal gewesen. Kai Müller

Einst schien sie das Gesicht der neuen Zeit zu sein, eine dämonische Maschinenfrau, vom Menschen erschaffen, in Fritz Langs Zukunftsvision „Metropolis“ von 1927. Das 20. Jahrhundert ist darüber hinweggegangen, hat neue Zukunftsträume geträumt, neue Stadtbilder, neue Maschinenmenschen. Terminator, Star Wars, Brazil, Blade Runner – alle haben von Fritz Lang gelernt. Langs Hochhäuser und Stadtautobahnen, fliegende Fahrzeuge und Fahrstühle haben Stadtplaner und Filmemacher gleichermaßen inspiriert, bis der Traum der autogerechten Stadt in Stau und Luftverschmutzung erstickte. Auch die schöne Brigitte Helm hat den Wechsel zum Tonfilm nicht mehr richtig mitgemacht, 1935 zog sie sich vom Filmgeschäft zurück. Ihre erste und größte Rolle, die Maschinenfrau Maria aus „Metropolis“, scheint uns wie ein strahlendes Jugendbild aus der Frühzeit des Kinos. Und wie es sich für solche Bilder gehört, gebührt ihnen ewige Jugend. Ob die Berlinerin Brigitte Helm, eigentlich Brigitte Eva Gisela Schittenhelm, am 17. März 2006 ihren 100. Geburtstag feiern würde oder erst 2008, ist nicht mehr zu klären. Christina Tilmann

Kaum ein gutes Haar ließ Brecht an seinen amerikanischen Mitemigranten, und das ewigsommerliche Kalifornien konnte er ohnehin nicht ausstehen. Kein Wunder, dass Bertolt Brecht (50. Todestag am 14. August) stattdessen vom Theater träumte, für das er in den Jahren seines wechselnden Exils diejenigen Stücke schrieb, die Ruhm und Rolle als Quasi-Staatsdichter der nachmaligen DDR untermauern sollten. Vor allem die „Mutter Courage“, zugleich die Paraderolle seiner (zweiten) Frau Helene Weigel. Das war so ganz anders, so deutungsschwerer als der leichthändige Evergreen „Dreigroschenoper“, mit der er 1928 Weltruhm erlangte. Heimisch wurde er nirgends so recht. Im Westen war Brecht lange verfemt, ehe er in den sechziger Jahren die bundesdeutschen Bühnen eroberte – und die Gymnasiallehrer. Die 20-bändige Taschenbuchausgabe von 1968 gehörte zur Standardausstattung jeder linken WG, und Brechts gedrechselte Sprüche zierten alle Wände. Unmöglich, alle seine Dramen, seine – heute nur mit spitzen Fingern anzufassenden – „Lehrstücke“, seine spät erst richtig gewürdigte Lyrik, seine tausendfältige literarische Produktion zu fassen. Das Jubiläumsjahr wird ihn, der aller Präsenz zum Trotz aus der Aktualität gefallen scheint, gewiss in gnadenloser Vollständigkeit ans Licht holen. Und wenn das Volk nicht will: „Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Auch das ist Brecht, desillusioniert, in den „Buckower Elegien“ von 1953. Bernhard Schulz

Frieda schwimmt nackt. Zieht sich das Kleid übern Kopf, nichts trägt sie drunter, springt vom lecken Boot ins Wasser und schwimmt. So geht das jeden späten Sommerabend auf dem Ortelsburger See; der Junge, zwölf Jahre alt, bleibt im Boot, knöcheltief steht das Wasser, er schöpft es mit der Kelle weg, Frieda plätschert, verschwindet, taucht wieder auf, „sie langte zum Bootsrand, ich half ihr hinein“. Und angucken darf er sie, wie sie das Kleid überstreift, Frieda, das andere Nicht-mehr-ganz-Kind, angucken darf er sie, aber nicht anfassen, nicht umarmen, Nacht für Nacht. Es ist das letzte Kriegsjahr, als Wolfgang Koeppen sich zum ersten Mal verliebt – unehelicher Sohn einer mittellosen Frau, die bei der Schwester in Masuren untergeschlüpft ist für Jahre, und eines Tages kommt das Mädchen Frieda, sommerlandverschickt, zu Nachbarn aus dem hungernden Berlin. In dem späten Geschichtchen „Frieda“ setzt Koeppen, geboren am 23. Juni 1906, ihr ein schmuckloses Denkmal, Subjekt Prädikat Objekt, da ist er schon alt, weg von den Satzgirlanden, der Atemlosigkeit, dem Feuer seiner großen Romane, fern der kultivierten Geschmeidigkeit seiner Reiseprosa, schon lange im Schweigen, aus dem ihn nur die Literaturbetriebswirte noch zerren, hier ein Geburtstagsartikel, da ein Vorwort, dort eine Preisrede auch. Sein erster Roman, „Eine unglückliche Liebe“, handelt von der Nächstunerreichbaren, und auch später haben die einsamen Männer, die Koeppen aus sich rauserfindet, wenig Glück. Also schweigt er, ein Fastvergessener zu Lebzeiten, spaltet zwar einen höflich Öffentlichen aus sich ab, schweigt aber jahrzehntelang im Eigentlichen, „weil ich nicht zur rechten Zeit gestorben bin“. Hölderlin wurden nach der Hälfte des Lebens die Wörter zu klingenden, klingelnden Musik, Koeppen wurden sie zu Steinen. In „Frieda“ (1982) sind sie ausnahmsweise noch einmal warm; leicht und schwer wie die Liebe. Jan Schulz-Ojala

Lieber Harry, damit du gepanzertes Sensibelchen die zum 150. Todestag anstehende verlegerische Neuverwurstung als der Frivole, der Musikalische, der Kulinarische usw. gut überstehst, gibt es heute nur Zuspruch. Ich hätte zwar gern mal gewusst, warum du dich bei der Konversion seinerzeit als junger poetischer Bürgerschreck faustisch zum „Heinrich, mir graut vor Dir“ umgetauft hast, obwohl deine Bücher zunächst nur das Initial deines Vornamens trugen und Harry eigentlich auch ein schöner Name ist – aber heute keine Häme. Sondern Komplimente: dass du so arrogant und gefühlvoll, so engagiert und selbstverliebt, so intellektuell, witzig und ich-weißnicht-was-soll-es-bedeuten-dass- ich-sotraurig-bin-traurig durchs 19. Jahrhundert spaziert bist. So deutsch und so jüdisch, so poetisch ambivalent, dass unser mutloses Wintergärtchen Deutschland samt Romantik ohne dich schwer zu ertragen wären. Anders gesagt: „Der ist ein großer Schweinehund, dem jeder Sinn für Heine schwund“ (Erich Mühsam). Steh uns bei, Heinrich Heine , wann immer Schweinehunde, Politiker und Medien ihr Publikum als beschränkt und witzlos missachten! Harry, hol schon mal die Ironie! Thomas Lackmann

Rüdiger Schaper

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