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Junger Elegant. Arthur Schopenhauer um 1815. Ölgemälde von L. S. Ruhl. Foto: Ullstein Bild

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Kultur: Es war einmal in Venedig

Christoph Poschenrieder lehrt Schopenhauer italienische Lebensfreude

Man hat ihn vor Augen, als wär’s eine Figur von Wilhelm Busch (der selbst ein erklärter Schopenhauerianer war): der grimmig-schmallippige Denkerschädel, der Pudel als Lebenspartner, der unmäßige Appetit, mit dem er in der Frankfurter Gastwirtschaft stets doppelte Portionen verschlang, um anschließend über Askese zu meditieren. So kennt man ihn, den Philosophen in älteren Jahren. Er war aber auch mal ein feuriger junger Mann – so hat er seinen Auftritt in Christoph Poschenrieders Roman „Die Welt ist im Kopf“, einem der bemerkenswertesten Debüts der Saison.

„Lebe und sei so glücklich, als du kannst“ – das ist der berühmte Satz, den die Weimarer Salondame Johanna Schopenhauer ihrem ungeliebten Sohn mit auf den Lebensweg gab. „Sie hatte dies wohl als Fluchwort gemeint, unterstellend, ihr Sohn, der Zauderer, Grämliche, Grübler, Verschlossene, so wie dessen Charakter nun einmal sei, könne kaum je glücklich werden, so wenig, wie eine Schnecke ein Stöckchen überspringen kann.“

Bei Poschenrieder springt die Schnecke übers Stöckchen. Wir erleben den bärbeißigen Pessimisten, Misanthropen und Frauenverächter einmal ganz anders, nämlich beinahe glücklich. Gerade hat der Dreißigjährige „Die Welt als Wille und Vorstellung“ abgeschlossen. Nun begibt er sich auf große Reise in den Süden und verbringt den Winter 1818/19 in Venedig.

Die Stadt steht im Bann eines weltberühmten Don Juan: Lord Byron. Schopenhauer hat ein Empfehlungsschreiben von Goethe in der Tasche. Aber erst einmal lernt er selbst eine erotisch aufgeschlossene junge Frau kennen, Tochter eines venezianischen Wurstmachers. Das alles ist zu großen Teilen historisch verbürgt, wie auch jene Aspekte, die die Harmonie stören: die schwangere Geliebte in Dresden, der Ärger mit Verleger Brockhaus, die sich abzeichnende verunglückte Rezeption des Hauptwerks, der Konkurs des Danziger Handelshauses Muhl, bei dem die Schopenhauers einen großen Teil ihres Vermögens verloren.

Mit leichter Hand, in eleganter, unaufdringlich historisierender Sprache entfaltet der 1964 geborene Poschenrieder ein detailsattes Panorama der frühen Restaurationsepoche. Venedig steht unter österreichischer Besatzung, allerorten machen die Spitzel Metternichs lange Ohren, um revolutionäre Umtriebe im Keim zu ersticken – und sie observieren (erfundenerweise) auch Schopenhauer. Der wurde schon während der Alpenüberquerung auffällig, als er einen Kutscher, der seine Pferde malträtierte, mitleidsethisch in die Schranken wies. Metternich selbst hat einige Auftritte im Roman, auch Goethe und andere Größen der Zeit werden gekonnt vergegenwärtigt. Byron, seiner Casanova-Rolle inzwischen überdrüssig, wird gar zur zweiten Hauptfigur. Immer wieder beweist der Autor sein Talent für sinnfällige Pointen: etwa dass die anmutige Teresa bei der ersten Begegnung mit dem Lebensphilosophen einen Kübel mit Gedärmen schwenkt.

Von dem Furor allerdings, mit dem Schopenhauer die Leiden der Welt und die Übel der menschlichen Existenz durchdekliniert, spürt man vergleichsweise wenig, obwohl Poschenrieder viele Originalzitate einmontiert. Es liegt in der Natur der Sache: Wer einen verliebten Schopenhauer zeigen will, der sich von italienischer Lebensfreude anstecken lässt und unter Schwielenbildung sogar das Gondelfahren erlernt – der wird das dunkle Faszinosum dieses Philosophen nur schwer vermitteln können: diesen Wahrheitsblick auf das Leben, von dem so viele Künstler, Musiker und Schriftsteller in den Bann gezogen wurden (Wagner, Proust, Svevo, Beckett, Thomas Mann und Thomas Bernhard gehörten zu den bekennenden Schopenhauerianern).

Von Goethes Empfehlungsschreiben macht Schopenhauer übrigens keinen Gebrauch. Stattdessen erfindet Poschenrieder ein nächtliches Geistergespräch mit Byron. Es ist Karneval; zufällig stolpern sich der Philosoph und der Dichter maskiert über den Weg und verwickeln sich für ein paar Minuten in einen perfekten kleinen Dialog von unangestrengtem Tiefsinn. Bemüht erscheint dagegen der Showdown, eine Polizeistaatsposse, die auf einem Verschreiber beruht: Schopenhauer „fassen“ statt ihn in Ruhe „lassen“. Daraus ergibt sich eine wilde Gondelverfolgungsjagd durch Venedig; die Welt als Wille zur Komödienvorstellung. Man verzeiht den schwächelnden Schluss einem Roman, der intelligentes Lesevergnügen bietet und viele geglückte, einprägsame Szenen hat – etwa wenn Schopenhauer am Lido erleben muss, wie seine Geliebte in den Bann Byrons gerät: Schreie libidinöser Begeisterung stößt sie aus, als der Superstar so rasant vorbeigaloppiert, dass der Strand bebt.

Eindrucksvolle Schilderungen von Tierquälereien sind es schließlich, die am ehesten das kreatürliche Leiden im Geist des philosophischen Pessimismus nahebringen. Da bricht ein Elefant während des Hochwassers aus seinem Käfig aus und hinterlässt eine Spur der Verwüstung. Der brünftige Bulle, vom Trieb gepeinigt, sucht dringend eine Partnerin. Er ist jedoch der einzige Elefant in Venedig und wird mit einem Kanonenschuss zur Strecke gebracht.

Christoph

Poschenrieder:

Die Welt ist im Kopf.

Roman. Diogenes

Verlag, Zürich 2010.

342 Seiten, 21,90 €.

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