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Allah ist der Einzige. Dafür steht der Zeigefinger. Junge Berliner Salafisten verteilen den Koran.

© Caro / Hechtenberg

Religiöser Fundamentalismus: "Ich war einmal ein Islamist"

Alles fing mit einem Imam an, der in seinem Heimatdorf lehrte: Ahmad Mansour war ein schüchterner Junge und fand Sicherheit in der fundamentalistischen Ideologie. In einem Gastbeitrag erzählt er, wie er sich von den Verführungen des religiösen Fundamentalismus abgewendet hat.

Gerade mal 13 Jahre war ich alt, ein schüchterner Junge mit wildem Lockenkopf, als ich ein junger Islamist wurde. Ich spielte gern Fußball, und weil wir beim Kicken viel Lärm veranstalteten, hatte ich mich ständig mit meinen Großeltern in der Wolle. Am Saum des staubigen arabischen Dorfes nahe bei Tel Aviv endete die Welt, die ich bis dahin gekannt hatte. All das ist fast 24 Jahre her. In der Schule war ich gut, aber ich fand nur schwer Freunde. Oft stand mir meine Schüchternheit im Weg. Umso geschmeichelter fühlte ich mich, als sich plötzlich unser örtlicher Imam und Religionslehrer für mich interessierte. Er hielt mich auf dem Schulweg an und suchte das Gespräch mit mir. Dass ich ein guter Junge sei, versicherte er mir, dass in mir das Potenzial zu Größerem stecke. Er verkündete mir: „Der Islam braucht dich, mein Sohn!“ Mit großen Augen und offenen Ohren hörte ich seine Worte.

"Plötzlich war ich einer der Auserkorenen"

Bald darauf sprach er eine verheißungsvolle Einladung aus: Ich solle seinen Koranunterricht besuchen. Nur zu gern folgte ich dem eindrucksvollen älteren Mann mit dem Bart und den buschigen Augenbrauen. Auf einmal war ich einer der Auserkorenen. Meine Eltern waren zwar nicht sehr begeistert, sie waren zu der Zeit eher antireligiös, aber es war ihnen lieber, ich lernte etwas, anstatt mich wie unser Nachbarsjunge der dörflichen Jugendgang anzuschließen.

Direkt in der Nachbarschaft lag unsere lokale Moschee, ein weiß getünchter Bau mit bescheidenem Minarett und türkisgrünem Tor. In den kühlen Kellerräumen fand der Unterricht statt, zu dem wir uns jeden Donnerstag nach dem Abendgebet versammelten. Ich fand es dort irgendwie gemütlich mit all den Teppichen und gerahmten Suren, und ich genoss die Kühle in den heißen Tagen unseres israelischen Sommers. An die ersten Stunden erinnere ich mich noch heute gern. Neue Welten taten sich auf, und es war eine Art geistiger Sport, sich darin zu üben, die arabischen Worte des Korans richtig auszusprechen. Wir alle lernten von unserem Imam die komplexe Grammatik des Hocharabischen, und wir lauschten seinen Auslegungen. Besonders faszinierten mich die betörenden Schilderungen des Paradieses mit seinen Gärten der Wonne, den frischen Quellen und vielen Annehmlichkeiten. Als ich hörte, dass ich zu einem Volk zählte, das einmal groß und mächtig war, löste das in mir ein ungeahntes Hochgefühl aus. Das Beste aber war: Endlich fand ich Freunde! Uns einte eine gemeinsame Mission.

Mit der Koranschule erweiterte sich auch mein räumlicher Horizont. Zum ersten Mal kam ich über die engen Dorfgrenzen hinaus. In einem klapprigen Bus fuhr unsere Gruppe zu Islamseminaren in anderen Städten, wo wir andere Imame mit Superstar-Status erlebten. Wir begleiteten unseren Imam zu Hochzeiten oder machten einfach Ausflüge an einen See oder zu einer heiligen Stätte. In mein ödes Dorfleben war Bewegung gekommen.

Der Charakter der Lektionen änderte sich

Aber schon nach einer Weile änderte sich der Charakter der Lektionen. Plötzlich ging es nicht mehr um poetische Suren oder arabische Grammatik, sondern um bedrohliche Szenarien. Der Imam beschwor eine weltweit unterdrückte Umma, eine Gemeinschaft der Gläubigen, die für die Befreiung Palästinas kämpfen sollte. Eindringlich sprach er vom Fluch, der auf den Juden laste, von der unausweichlichen Wiedereroberung Spaniens – und damit der Islamisierung Europas. Sünden spielten jetzt eine riesige Rolle, und unser Imam kam in Fahrt: Frauen! Eine gefährliche Sache. Frauen anschauen: verboten. Ihnen die Hand geben: verboten. Unverschleierte Frauen? Sind der Hölle geweiht.

Ab da durften wir unsere Mitschülerinnen nicht mehr heimlich anhimmeln. Sie wurden vielmehr zu Feindinnen, Wesen, die uns zu unreinen Dingen verführen wollten. Die wirklich hübschen Frauen und Mädchen zu verachten fiel mir sogar leichter, als mein Interesse an ihnen zuzulassen – sie schienen ohnehin unerreichbar. Der Verdammnis preisgegeben war im Übrigen auch jeder Nachbar, der irgendwo nebenan heimlich Alkohol trank.

Arabische Mädchen, Juden und trinkende Dorfgenossen, das kannten wir. Doch der Imam eröffnete uns, dass es noch weitaus mehr Feinde in der Welt da draußen gab. Christen, Amerikaner, Europäer, Nationalisten, Kommunisten! Allesamt unsere Gegner, allesamt des Satans. Ihnen allen stehe ein grausamer Tod bevor, die schlimmsten Qualen der Hölle. So predigte unser Imam. Um den Respekt vor seinen Worten zu maximieren, stellte er uns Koranschüler eines Tages auf eine drastische Probe.

Zu später Stunde waren wir mit seinem alten Wagen zu unserem Dorffriedhof gefahren. Als wir ausstiegen, sahen wir in der Dunkelheit das Mäuerchen des Friedhofs. Die ganze Gruppe ging dem Imam hinterher, der murmelnd Suren sprach. Um uns war nichts weiter als das silberne Mondlicht, das die Pfade zwischen den Gräbern erleuchtete, bis wir vor einem offenen, frisch ausgehobenen Grab standen. Da befahl uns der Imam, uns im Halbkreis um die Grube zu stellen.

Die Mutprobe - ein bizarrer Initiationsritus

Mit jähen Ausrufen hämmerte er auf uns ein: „Denkt an euren Tod! Denkt an eure Begegnung mit Allah! Denkt daran, dass ihr alle hier enden werdet! Vielleicht schon morgen oder in einem Monat!“ Dann sollten wir der Reihe nach, jeder für sich allein, in das dunkle Loch hinabklettern und uns flach auf den Boden legen. Es war eine Mutprobe, aber auch ein bizarrer Initiationsritus. Während wir uns einer nach dem anderen in das Erdloch begaben, wetterte der Imam weiter: „Auf alle Menschen, die Allah im Leben nicht gefolgt sind, werden im Grab Schlangen und Dämonen warten, die sie schlagen und quälen! Bis in alle Ewigkeit.“

Für mich war das fast ein traumatisches Erlebnis. Aber keiner von uns, auch ich nicht, brach aus, alle blieben dem Imam und seiner Lehre treu. Viel zu attraktiv waren der Zusammenhalt der Gruppe, der erhebende Anspruch, das Leben des Propheten Mohammeds nachzuahmen, die Orientierung und Struktur, die ich erlebte. Ich bekam das Gefühl, im Besitz einer überlegenen Wahrheit zu sein, die anderen verborgen war. Meine Angst vor der Hölle kam mir sinnvoll vor: Sie bewahrte mich vor sündhaftem Begehren. In der fundamentalistischen Ideologie fand ich Sicherheit, wenn auch keine Selbstsicherheit.

Als eben dieser Imam nach dem Tod seiner Eltern der eigenen Schwester im Namen von Allah das Erbteil verweigerte, während er im Unterricht doch hochtönend über die Gerechtigkeit referiert hatte, die jeder gute Muslim walten lassen sollte, stieg in mir Skepsis auf. Mein Eindruck von seiner Doppelmoral bestätigte sich immer mehr, und mir dämmerte, dass uns der Prediger nur benutzte, um von der Bürgerversammlung erneut gewählt zu werden. Mit der inneren Distanzierung begann ein Ausstieg auf Raten, zu dem auch die Tatsache beitrug, dass mein Interesse an Mädchen über die Angst vor der Hölle siegte. Dass ich aus der verheerenden Ideologie komplett wieder herausfand, war mein Glück. Kaum ein anderer aus meiner Koranschule hatte die Chancen, die ich erhielt, die meisten sind bei ihrer Ideologie geblieben, etwa als Anhänger der Muslimbruderschaft oder des Salafismus.

Die Befreiung war ein langer Prozess

In den Jahren des Psychologiestudiums an der Universität Tel Aviv fing ich an, Freud zu lesen, mich mit Geschichte und Soziologie zu beschäftigen und mit anderen Studenten zu diskutieren. Sukzessive löste ich mich von der Autorität der Imame ab. Diese Befreiung war ein langer Prozess, und noch jetzt tauchen manchmal Schuldgefühle auf, wenn ich ein Glas Wein trinke. Nur, dass ich heute darüber lächeln kann.

Zum Diplomstudium kam ich 2005 an die Humboldt-Universität zu Berlin. Hier in der Stadt arbeite ich inzwischen seit Jahren an Projekten mit, die sich der Aufklärung von und dem Dialog mit muslimischen Mitbürgern widmen. Wir diskutieren mit Jugendlichen und Erwachsenen über Radikalisierung, über Antisemitismus, oder Gewalt in der Erziehung. Oft erlebe ich, wie im Gespräch bei jemandem der Groschen fällt, wie sich der Funke des Selberdenkens entzündet.

Umso mehr erschreckt mich, was sich in diesen Tagen in Deutschland tut. Radikale Varianten des Islam breiten sich in migrantischen Milieus und unter einigen Deutschen so schleichend wie wirksam aus. Salafisten wie mein damaliger Imam gehen auch hier inzwischen auf Kinderfang. Prediger wie Abu Nagi oder Pierre Vogel und deren Anhänger bieten Kindern und Jugendlichen Zuflucht, Akzeptenz und Orientierung. Technisch haben sich die Methoden verändert, inhaltlich nicht. Im Internet finden junge Leute mit wenigen Klicks die Webseiten, die ihnen – auf Deutsch – einen Islam anbieten, der Reinheit verspricht. Design und Sound der Videos lehnen sich an Videospiele an. Bärtige Salafisten in langen Gewändern agieren als selbst ernannte Streetworker, die Jungen und Jugendliche von Crack und Alkohol weg zu ihrer Gemeinde holen, wo sie Religion als Ersatzdroge im Angebot haben: „Mit Allah kannst du mehr aus dir machen!“ Von Eltern deutscher Konvertiten höre ich bei Workshops Klagen, Jugendliche weigerten sich, ihren Geburtstag zu feiern, weil das haram – unrein – sei; sie wollten an Weihnachten und Ostern mit der Familie nichts zu tun haben.

Inzwischen hat das Innenministerium zwar mehrere salafistische Vereine wie „DawaFFM“ und „Islamische Audios“ wegen Verfassungsfeindlichkeit verbieten lassen und aufgelöst. Doch die Köpfe sind noch da, neue Vereine sind schnell gegründet. Zu den organisierten Salafisten werden etwa 10 000 Menschen in Deutschland gezählt, ihr sympathisierendes Umfeld muss man als mindestens zehnmal so groß einschätzen.

Haben sich Jugendliche einmal der Autorität der Salafisten ergeben, werden sie wie in einer Sekte zu willenlosen Marionetten, von eiserner Hand geführt. Kritisches Denken wird systematisch unterbunden. Der Allah, der ihnen präsentiert wird, lässt nicht mit sich reden. Zweifel sind tabu. Individuelle Gefühle sind tabu. Den Verführern nutzt es, dass meist auch das gängige Islamverständnis eines „Mustafa-Normal-Muslims“ autoritäre Züge aufweist. Eine an Kontrolle orientierte Erziehung, die auf Kollektivität und Respekt vor Autorität abzielt, verstärkt die Anfälligkeit von Jugendlichen für jene, die ihnen sagen: So und so musst du dich verhalten, das darfst du, das darfst du nicht. Bei einigen Salafisten geht das so weit, dass sie Jugendlichen vorgeben, mit welchem Fuß man die Toilette zuerst betreten soll, weil Mohammed es angeblich immer genauso gehalten habe. Demokratie ist in ihren Augen Teufelszeug, das zu Schwulenehen und anderen Sünden führt. Von „normaler“ Frömmigkeit über zwanghafte Ideologisierung bis zum gewaltbereiten Fundamentalismus sind die Übergänge fließend.

Schläge in der Erziehung sähen Gewalt

Auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen plädiere ich dafür, den Salafismus viel genauer zu beobachten und seine Ideologien klarer zu analysieren. Die Gesellschaft sollte sich nicht in die Irre führen lassen und nur darauf achten, ob Salafisten und Islamisten das Bombenlegen preisen. Tatsächlich sind gewaltbereite Dschihadisten noch in der absoluten Minderheit, sogar unter Salafisten. Doch die Fixierung der Sicherheitskräfte auf den Jargon der Gewalt führt dazu, dass andere demokratiefeindliche Inhalte unbeachtet bleiben. Manchmal wird sogar ein Imam, der ein reines Lippenbekenntnis zur Demokratie ablegt, als deren Stütze gefeiert – da setzt der Irrtum ein. Gewalt beginnt nicht erst, wo Menschen im Namen von Religion andere töten wollen. Auch Schläge in Erziehung und Ehe säen Gewalt, auch das Propagieren von Geschlechterapartheid, der Exklusivitätsanspruch einer Religion, das Ablehnen von Rechtsstaat und Demokratie oder der Glaube, andere vor einem gottlosen Leben retten zu müssen: All das repräsentiert Facetten struktureller Gewalt, die der physischen vorgelagert und deren Bedingung ist.

Leider benutzen manche muslimische Organisationen die aktuelle Debatte, um Salafisten als alleinige Sündenböcke für radikale Tendenzen im Islam verantwortlich zu machen. Nicht selten täuschen sie damit darüber hinweg, wie radikal sie teils selber sind. Der Salafismus muss als Phänomen erkannt werden. Diese Spielart der Religiosität gießt weit verbreitetes Islamverständnis in eine extreme Form und bietet diese Variante auf dem Markt der konkurrierenden Kulte an.

Wer den wachsenden Salafismus in Deutschland bekämpfen will, muss sich kritisch und differenziert mit ihm auseinandersetzen. Leider scheuen manche muslimische Organisationen genau davor zurück – als hätte ein Ausläufer des Bannes sie schon erreicht. Insgeheim bewundern viele die „konsequenten und starken Moslems“, als die sie die Salafisten ansehen.

Rechtspopulisten begrenzen sich auf repressive Ausweisungspolitik. Im linken Spektrum der Gesellschaft zeigt man sich konfliktscheu und führt man das Phänomen von radikalen Muslimen allein auf die erfahrene Diskriminierung und Ausgrenzung zurück.

Eine Salafismusdebatte muss eine Debatte über Werte sein, über das Vermitteln und Stärken von Demokratie. Sie muss angstfrei und tabufrei initiiert werden und auch innerislamisch geführt werden. Gebraucht wird eine demokratiefähige Islaminterpretation mit klaren Positionen im Hinblick auf unser Grundgesetz. So und nur so finden Muslime in der Demokratie zur nötigen Freiheit der Auslegung islamischer Glaubensinhalte.

Der Autor, 1976 als arabischer Israeli geboren, ist Diplom-Psychologe und lebt seit 8 Jahren in Deutschland. Seit September 2010 arbeitet Ahmad Mansour als Wissenschaftlicher Mitarbeit des Zentrums für Demokratische Kultur in Berlin. Seine Schwerpunkte sind Salafismus, Antisemitismus sowie psychosoziale Fragen und Probleme bei Migranten muslimischer Herkunft. Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe „Präventionsarbeit mit Jugendlichen“ der Deutschen Islam Konferenz und berät die European Foundation for Democracy.

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