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Essay: Nur einsame Gespenster sind sauber

Leben im eisernen Käfig: Über Chinas sichtbare und unsichtbare Gefängnisse. Ein Essay.

Als Liao Yiwu im Gefängnis saß, hatte er die Gelegenheit, von einem alten Mönch das Spielen der Bambusflöte zu lernen. Eines Tages sagte der alte Mönch zu ihm: „Du und ich sitzen in einem sichtbaren Gefängnis und die Leute da draußen in einem unsichtbaren Gefängnis.“ Liao Yiwu war für einen Moment fassungslos und sagte leise: „Ich will raus.“ Der alte Mönch schüttelte den Kopf: „Jeder Chinese will aus dem Gefängnis fliehen. Es ist leider nicht möglich.“

Der größte Beitrag der chinesischen Kommunistischen Partei ist es, dass sie ein Viertel der heutigen Weltbevölkerung in einem Käfig eingesperrt hält. Das Eingesperrtsein schränkt die Menschen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ein. Deshalb – auch wenn überall zunehmend politischer, wirtschaftlicher und kultureller Austausch stattfindet, auch wenn die Fußabdrücke des chinesischen Volkes fast überall auf der Welt zu sehen sind – bleibt ihre Seele in einem eisernen Käfig.

Das beste Beispiel dafür liegt auf der Hand: Auf der Frankfurter Buchmesse 2009 war das Land China als Ehrengast eingeladen. Die Regierung entsandte eine große Delegation von Staatsautoren. Natürlich ist es eine sichere Sache, Goethe in Deutschland zu preisen. Genauso sicher ist es auch, in China Konfuzius zu preisen. Somit tauschte man sich über den deutschen Goethe und den chinesischen Konfuzius aus. Aber was, wenn ein Reporter fragte: „Wissen Sie, wer Liu Xiaobo ist? Er ist Ihr Kollege, sitzt aber im Gefängnis wegen des Verfassens der Charta 08.“

Mehr als 100 chinesische Autoren befanden sich 2009 in einem freien Land. Die meisten von ihnen hatten das Tian’anmen-Massaker im Jahr 1989 miterlebt. Aber keiner stand auf und sagte: „Ich weiß, wer Liu Xiaobo ist.“ Das erlebte auch der Schriftsteller Liao Yiwu, als er vielen Einwanderern aus der Volksrepublik China in den chinesischen Kirchen in den USA begegnete. Tag und Nacht beten sie zu Gott. Aber niemand steht auf und sagt: „Wir wollen Gottes Gerechtigkeit für die Abertausenden von politischen Gefangenen in China erbitten.“

Im sichtbaren Gefängnis lebt der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. In einem unsichtbaren Gefängnis lebt seine Frau Liu Xia. So ist ihre Fotografie entstanden. Sie fotografiert die verschiedensten Puppen aus der ganzen Welt. Die Puppen haben kein Leben, aber Freiheit. Liu Xia hat ein Leben, aber keine Freiheit. Sie ist von ihrem Mann seit vielen Jahren getrennt. Sie stand auch schon einmal mit ihrem Mann zusammen unter Hausarrest. So hinterlassen die Puppen, die Freiheit verströmen, Spuren auf ihren Fotos. Die Schönheit der Natur bleibt einem Fotografen fern. Das ist sicherlich bedauerlich, aber so ist es. Ihre Liebe trägt keine Früchte durch das Pendeln zum Gefängnis und zurück. Deshalb verrät ihre Fotografie das tiefe Mitleid einer Frau für die Puppen.

Auch weitreichende historische Ereignisse wurden auf Filmmaterial dokumentiert. Tsering Dorjee, Vater der tibetischen Dichterin Woeser Tsering, hinterließ eine Reihe von Fotoserien über die „Kulturrevolution in Tibet“. Diese seit über 40 Jahren vergessenen Bilder zeichnen die Versuche des kommunistischen Regimes auf, die Kulturrevolution vom Festland auf Tibet zu übertragen und sie ihm aufzudrängen. Die Lamas wurden malträtiert und die Klöster zerstört, so sollten die Wurzeln abgetötet werden, die das Volk auf dem Plateau seit Tausenden von Jahren am Leben erhielten. Der 14. Dalai Lama wurde ins Exil gezwungen. Das Plateau geriet in die Hände der Feinde. Unzählige Menschenleben wurden geopfert. Später folgte der 17. Karmapa Seiner Heiligkeit ins Exil.

Seine Heimat sank immer tiefer ins Unheil. Unzählige Menschen lebten weiterhin unter den Füßen der Feinde. Die Mönche und die Tibeter mussten ihr Leben opfern, um gegen die Ungerechtigkeit zu protestieren. Es wurde eine Reihe von Selbstverbrennungen entfacht – Woeser appelliert verbittert und ruft zu einem Ende der Selbstverbrennungen auf: „Nicht wieder selbst in Brand setzen! Das Leben sollte erhalten bleiben, auch wenn die unerträgliche Unterdrückung tagtäglich wächst.“ Und sie hat das Erbe ihres Vaters mit der gleichen Barmherzigkeit in einer finsteren Umgebung bewahrt – eine einzigartige historische Dokumentation der „Kulturrevolution“ in Tibet.

Künstlerische Wahrheit unter der kommunistischen Diktatur

Meng Huang ist einer der chinesischen Maler, die Liu Xiaobo am meisten schätzt. Nach dem Tian’anmen-Massaker im Jahr 1989 wurden die Künstler derart terrorisiert, dass sie den politischen Themen fernblieben. Meng Huang ist jedoch eine der seltenen Ausnahmen. Seine Hauptfarbe ist Schwarz. Er sagte: „Die Landschaften haben eine Mimik.“ Mit Liu Xiaobo diskutierte er auch über die „Politik der Farben“. Mit anderen Worten: Meng Huang nutzt seinen Pinsel, um das Leben der Chinesen und die vibrierenden Nerven der Gesellschaft zu dokumentieren und zu sortieren.

Die Katastrophen in Bergwerken, der Zusammenbruch eines Staudamms, die Verbote im Gefängnis, die Gesichter der Idioten, die Menge von Schaulustigen, die Kamine, die Bäume mit den zerzausten haarigen Zweigen, die Eisenbahnschienen in nächtlichen Farben, das fahle Licht: All diese Symbole bilden eine Collage der „künstlerischen Wahrheit“ unter der kommunistischen Diktatur. Es ist die Wahrheit einer menschlichen Natur, die immer wieder vergewaltigt wurde und die Farbe von extremem Schwarz angenommen hat. In China, wo es die weltweit größte Müllkippe gibt, sagte Meng Huang: „Vielleicht sind nur die einsamen Gespenster sauber.“

Ai Weiwei besitzt einen ähnlichen künstlerischen Charakter wie Meng Huang. Sein Einfluss reicht aber über die Leinwand hinaus. Durch das umfangreiche Engagement ist seine Kunst in jeden Bereich der chinesischen Gesellschaft eingedrungen. Sowohl als Regimekritiker wie auch als Künstler hat sich Ai Weiwei einen Namen gemacht. Zusammen mit dem Schriftsteller Liu Xiaobo ist er der Feind Nummer eins der Kommunistischen Partei. Sie sind die Zerstörer des sichtbaren und unsichtbaren Gefängnisses geworden.

Der Dichter Liao Yiwu rezitierte ein Gedicht namens „Massaker“ in jener Nacht des Völkermords. Auch wenn seine Stimme laut und schrill war, hatte er nicht die Absicht, die Henker auf den Plan zu rufen. Aber er musste ins Gefängnis gehen. Dann wanderte er vom sichtbaren Gefängnis wieder ins unsichtbare. Später ist er aus dem unsichtbaren Gefängnis ins freie Deutschland geflüchtet. Aber die Wahrheit ist: „Wenn das Herz nicht frei ist, erlangt man nie die Freiheit.“

Er veröffentlichte sein Buch „Für ein Lied und hundert Lieder“. Mit dieser Gefängnis-Autobiografie erwarb er sich international einen Ruf. Damit hatte niemand gerechnet. An dem Buch hat er mehr als zehn Jahre geschrieben. Das Originalmanuskript wurde zweimal von der Polizei beschlagnahmt. Was man hier in der Ausstellung sieht, ist sein drittes Manuskript. Seite für Seite, auf denen sich haufenweise ameisenähnliche Zeichen drängen, ist ein Produkt der Angst und des Schreckens. In diesem Manuskript riecht man das Gefängnis und kostet das heimliche Schreiben. Einige Leute fragten: „Ist das Manuskript Literatur oder Kunst?“ Liao Yiwu erwiderte: „Keins von beiden. Es ist bloß ein Albtraum.“

Vielleicht zeigt diese Kunstausstellung keine Romantik. Vielleicht finden viele wirtschaftliche Verhandlungen irgendwo anders statt. Egal ob Freiheit oder Diktatur – der Handel zwischen allen Ländern wird mit großer Freude begrüßt. Auch wenn die Erinnerung noch so schmerzhaft ist, auch wenn sie wenig romantisch ist, der Austausch darf nicht fehlen.

Ja, wir befinden uns in einem eisernen Käfig. Nein, wir sind keine Narren, die einer Gehirnwäsche unterzogen worden wären.

Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu hat diesen von Yeemei Guo übersetzten Essay zu der Ausstellung „Die sichtbaren und die unsichtbaren Gefängnisse“ verfasst. Er spricht von sich selbst in der dritten Person. Die Vernissage findet am 3.9. um 19 Uhr im Haus der Berliner Festspiele statt, wo die Ausstellung bis zum 16.9. täglich von 10 bis 18 Uhr zu sehen ist. Eintritt 5 €.

Liao Yiwu

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