zum Hauptinhalt

Kultur: "Est-Ouest": Ach ja, Mütterchen Russland - Anklänge an Doktor Schiwago bei Régis Wargnier

Der Schock könnte nicht größer sein. Soeben noch befand man sich im warmen, hellen Schiffsbauch, trank Wein und brachte Trinksprüche aus, war ein bisschen betrunken, freute sich auf die neue, alte Heimat: auf Russland, wie man zweifellos im Kreis dieser Remigranten sagen würde, die jahrelang in Frankreich gelebt haben.

Der Schock könnte nicht größer sein. Soeben noch befand man sich im warmen, hellen Schiffsbauch, trank Wein und brachte Trinksprüche aus, war ein bisschen betrunken, freute sich auf die neue, alte Heimat: auf Russland, wie man zweifellos im Kreis dieser Remigranten sagen würde, die jahrelang in Frankreich gelebt haben.

Jetzt aber, nachts im Hafen von Odessa, ist es kalt und unwirtlich. Im fahlen Licht der Hafenlampen stolpern sie von Deck, um sich von Militärs mit schneidenden Stimmen anbrüllen, drangsalieren und in Gruppen einteilen zu lassen, je nach Bestimmungsort. Auch Alexej und Marie mit ihrem kleinen Sohn Serjosha sind unter den Neuankömmlingen - und die Französin Marie macht nun zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Heimatland ihres Gatten.

Aber ist denn Stalins Sowjetunion von 1946 noch die Heimat der Remigranten? Alexej hofft es. Die Familie wird in Kiew in einer Gemeinschaftswohnung untergebracht; zu dritt wohnen die als "Franzosen" von den Mitbewohnern mit Misstrauen bedachten Neuen in einem Zimmer. Aber bald schon findet Marie Trost bei der Concierge, die sich als ehemalige Wohnungseigentümerin entpuppt und in ferner Vergangenheit von ihrer Gouvernante Französisch lernte. Alexej wird Betriebsarzt in einer Textilfabrik, in der Arbeiterinnen in grau-blauen Kitteln grau-blaues Tuch für noch mehr Kittel herstellen und am grau-blauen Faserstaub zu ersticken drohen, und wo sich die quer durch den Raum gespannten roten Transparente wie Blutspuren ausnehmen.

Alsbald wird die Concierge als Spionin von Stalins Schergen weggeschleppt. Doch hinterlässt sie ihren Enkel Sascha - und der kann, zum Glück für Marie, auch Französisch. Und schwimmen. Und während Maries Sohn immer mehr russifiziert wird, trainiert sie Sascha, der nun viertes Familienmitglied ist, für die Teilnahme an internationalen Wettkämpfen. Allein gegen den Strom schwimmt der junge Mann; und nur am Fluss draußen ist das Licht hell und klar und warm. Im verschneiten Winter dann leisten sich die beiden eine kleine Affäre - in Posen, die an Doktor-Schiwago-Stills erinnern.

Ach ja, gelegentlich zeigt Mütterchen Russland doch noch ihr verhutzeltes, freundliches Gesicht. Meistens aber sieht man in das steinerne, grausame, bleiche Antlitz des Orwellschen Großen Bruders. Und wenn da nicht Männerchöre und verschmitzte Generäle gelegentlich für Operettenschwung sorgten, hätte die in edler, blasser Schönheit vor sich hin leidende Marie (Sandrine Bonnaire) gar keinen Spaß ...

Régis Wargnier hätte, wie er es ursprünglich beabsichtigt hatte, einen Film über Pferde und die Tundra drehen sollen anstatt pseudo-politisch zu werden. So hat er ein hoffnungslos démodé wirkendes, schwerfälliges Kalter-Kriegs-Epos inszeniert, das jeglichen diskursiven Kontextes entbehrt. Dafür lässt es kein Klischee aus und ist mit Symbolen überladen. Seine Faszination für Russland und die Ideen des Kommunismus, gibt Wargnier zu Protokoll, seien Gegenreaktionen auf seine rechts-konservative Erziehung. Die war am Ende wohl doch wirksamer, als er es wahrhaben will.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false