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Kultur: Ethik, Selektion und Herrenmenschen - inzwischen wird die Auseinandersetzung von kulturelitärem Dünkel geprägt

Die Sloterdijk-Debatte nimmt immer kuriosere Züge an. Aus der Auseinandersetzung über das gedankenwirre Raunen eines philosophischen Schamanen, der sich zum Supervisor der biotechnischen Forschung aufschwingen wollte, scheint ein Grundsatzstreit über die geistigen und ethischen Grundlagen der Republik zu werden.

Die Sloterdijk-Debatte nimmt immer kuriosere Züge an. Aus der Auseinandersetzung über das gedankenwirre Raunen eines philosophischen Schamanen, der sich zum Supervisor der biotechnischen Forschung aufschwingen wollte, scheint ein Grundsatzstreit über die geistigen und ethischen Grundlagen der Republik zu werden. Das jedenfalls legt der Leitartikel von Thomas Assheuer in der "Zeit" (vom 30. 9.) nahe. Sloterdijks Thesen zur Überwindung des Humanismus und die Reaktionen seiner Verteidiger wertet Assheuer als ideologische Offensive, die auf die Tilgung des zivilen, sozialstaatlichen Erbes der alten Bundesrepublik ziele.

Wie kommt es zu dieser seltsamen Wendung? Im Verlauf der letzten Wochen ist Sloterdijks Denkübung zum Thema "Selektion" menschlicher Gene von kompetenten Kommentatoren in Grund und Boden kritisiert worden. Die Front zwischen Kritikern und Unterstützern verlief dabei quer durch die bekannten Lager von linksliberal und liberalkonservativ. Ernst Tugendhat nahm sich in der "Zeit" (vom 23. 9.) die philosophischen Prämissen der Sloterdijk-Rede vor und kam zu dem Schluss, dass sich in deren pathetischen Worthülsen nur heiße Luft befindet. Patrick Bahners ließ dann in der FAZ (vom 27. 9.) den Sloterdijkschen Heißluftballon platzen und nannte dessen Versuch, sich mit einem Neuaufguss vitalistischer Humanismuskritik als neuen Nietzsche zu präsentieren, die pompös-peinliche Selbstinszenierung eines geistigen "Knallfroschs". Jens Reich, selbst Genbiologe, hält Sloterdijks "Nachtstück" für unqualifiziertes, unverständliches Gerede. In einer Fernsehdebatte mit Detlef Linke hatte Sloterdijk dessen Vorwurf, er stelle mit seiner heideggerisierenden Forderung, auf "das Sein zu hören", die rationalen Grundlagen für die Festlegung ethischer Normen in Frage, nichts entgegenzusetzen als Ausweichmanöver und konfuses Gemurmel.

Wen aber hat Sloterdijk in dieser Debatte auf seiner Seite? Antje Vollmer, die ihn in der FAZ (vom 27. 9.) zum Opfer linker Intoleranz und eines humanistischen Übermoralismus stilisieren durfte, wird man kaum zu den substantiellsten Vordenkern der Republik zählen können - weder auf dem Gebiet der Politik, der Philosophie noch der Wissenschaftsethik. Umso tiefer greift die mit diesem Thema theoretisch überforderte Vollmer in die Kiste des Ressentiments gegen einen anthropologisch angeblich naiven liberalen Humanismus. Argumentativ hat Sloterdijk die Schlacht eindeutig verloren. Ausgerechnet sein ärgster Kontrahent Assheuer aber baut den Zurechtgestutzten jetzt wieder zum übermannshohen Gegner auf. Wie gefährlich ist Sloterdijks Vorstoß aber wirklich, welche intellektuellen und politischen Kräfte hat er tatsächlich mobilisiert?

Wer genau hinhört, wie Sloterdijk seine Elmauer Rede auslegt, der erkennt schnell, dass es ihm in der Tat nicht um die realen Probleme der Biotechnologie geht, von denen er ganz offensichtlich keine Ahnung hat, sondern um die kulturkritische Infragestellung der ethischen Grundlagen der liberalen Massendemokratien. Er sieht in der "amerikanisierten" Gesellschaft der pazifizierten Einzelnen die Herrschaft des "Letzten Menschen" verwirklicht, wie ihn einst Nietzsche voller Verachtung porträtiert hat: Er habe kein Gefühl mehr für die Größe und die ungeheueren Möglichkeiten der menschlichen Natur, verspüre nicht mehr die elementare, gefährliche Tiefe des Daseins; er begnüge sich mit "einem Lüstchen für den Tag und einem Lüstchen für die Nacht". In einer Debatte in Berlin griff Sloterdijk dieses Motiv auf und erklärte, im Verhältnis zur Gentechnologie entscheide sich, ob unsere westliche Kultur noch bereit sei, eine qualitative Weiterentwicklung der Gattung zu denken, oder ob sie es vorziehe, den jetzt erreichten Standard des liberalen Massenkultur-Menschen für endgültig zu erklären und ihn auch dem Rest der Welt aufzudrängen. Die altbekannte Leier also der deutschen Zivilisationskritik am angeblich dekadenten, den Menschen zugleich "enthemmenden" (oder "bestialisierenden") und unfruchtbar machenden westlichen Liberalismus.

Gibt aber dieser vom Elitedünkel getriebene gewöhnliche Antiamerikanismus und Antiuniversalismus das Potenzial für eine geistig-moralische Neubegründung der "Berliner Republik" ab, wie Assheuer befürchtet? Das zu behaupten heißt, die Definitionsmacht einiger aus Verbitterung über ihren wachsenden Bedeutungsverlust zu Schwadroneuren der Menschenzucht mutierender Akademiker grenzenlos zu überschätzen. Der kulturanthroplogisch aufgeblasene Knallfrosch als geistiger Führer und ideologischer Neubegründer der Nation? Indem Assheuer ihm derartiges zutraut, geht er dem Größenwahnsystem seines Gegners in die Falle. Denn all die Bocksgesänge, die wir in den letzten Jahren aus den Reihen unserer Dichter und Denker vernommen haben, sind doch eher Ausdruck zunehmend hysterischer Rückzugsgefechte von Teilen einer (ein-)gebildeten Kaste, die sich in der Vielfalt der pluralistischen Gesellschaft nicht mehr zurechtfindet und ihre noch immer vorhandene Diskursmacht nutzt, sich als maßgebliche Instanz für das Wohl und Wehe der Gesellschaft zu präsentieren. In Wahrheit hat das, was in akademischen Studierstuben und feuilletonistischen Grabenkämpfen ausgeheckt wird, für die reale Entwicklung der pluralistichen Gesellschaft zum Glück nur wenig Bedeutung.

Und ist Sloterdijks heideggerianisierender Antihumanismus eigentlich so eindeutig "rechts", wie Assheuer ganz selbstverständlich vorauszusetzen scheint? Ganz so übersichtlich liegen die Dinge nun eben nicht. Phantasien über die Verbesserung des Menschen oder gar die wissenschaftliche Produktion eines "Neuen Menschen" sind tief in linken Utopietraditionen verwurzelt. Wenn andererseits Bernd Ulrich im Tagesspiegel (vom 24. 9.) die Sloterdijk-Debatte als Teil einer fortlaufenden Kampagne linker Alarmisten denunziert, die damit die Übermacht eines ominösen "Systems Habermas" befestigen wollten, verzerrt er das wirkliche Koordinatensystem der Intellektuellenstreitigkeiten der letzten Jahre. Das Skandalöse in den revisionistischen Thesen Ernst Noltes und in der totalitären Raserei Peter Handkes konnte jeder sehr gut erkennen, auch wenn er von der Kritischen Theorie wenig hält und ohne zuvor aufhetzerische Briefe von Jürgen Habermas erhalten zu haben. Botho Strauß, Martin Walser, Peter Handke, Peter Sloterdijk stammen sämtlich aus der Linken und haben sich bei aller rhetorischen Wandlung in einer Kernüberzeugung nicht verändert: in ihrem Affekt gegen die liberalistisch-amerikanisierte Konsum- und Massengesellschaft, in ihrer ewigen Klage über die Amoral und Verantwortunglosigkeit der von der Kulturindustrie verblendeten tumben Masse. Sie formulieren diese altlinken kulturkritischen Ressentiments jetzt nur anders, verkleiden sie in "zeitgemäßer" konservativer Rhetorik. Sollen Liberale, die solcher aggressiven Verachtung gegenüber der freiheitlichen Gesellschaft schon in ihrer "linken" Variante nichts abgewinnen konnten, sich jetzt als "linke" Gedankenpolizei abqualifizieren lassen, weil sie konsequenterweise auch den nunmehr "rechts" drapierten kulturelitären Dünkel bekämpfen?

Kein Zweifel: In die Sloterdijk-Debatte werden Kontroversen hineinprojiziert, die mit dem eigentlichen Anlass wenig zu tun haben. Die Gegner des liberalen Individualismus und Universalismus versuchen, die Furcht vor dem technischen Fortschritt für die Renaissance des Gedankens einer hierarchischen Kastengesellschaft zu nutzen. Weil der ethische Horizont der liberalen Demokratie den neuen Herausforderungen der Technik angeblich nicht gewachsen sei, bieten sie sich als moralische Oberaufseher und Wertestifter an, die den ungebildeten Unterschichten vorschreiben können, welche technische Errungenschaften sie nutzen dürfen und welche nicht. Auf nichts anderes zielt das Phantasma Sloterdijks von einem Welt-Konvent der "Spezialisten", der einen Moralkodex für die Genbiologie verabschieden soll. Genutzt wird diese Debatte auch, um den westlichen Begriff der Menschenrechte als überholt und undifferenziert zu diskreditieren und die Ausbreitung von Menschenrechtsstandards in aller Welt als ignoranten Kulturexpansionismus zu desavouieren. Früher lief dieser Angriff auf die Legitimität der Menschenrechte unter der "linken" Prämisse des Widerstands gegen den "westlichen Imperialismus". Heute wird die westliche Menschenrechtspolitik von einer trauten Koalition aus Ex-Maoistinnen und Altkonservativen - von Antje Vollmer bis Konrad Adam (vgl. FAZ vom 2. 10.) - als gefährlicher linker Utopismus verleumdet. Gemeint ist aber das Selbe: Die freiheitliche Bürgergesellschaft, in der die Selbstbestimmung über die Wertmaßstäbe, nach denen der Einzelne leben will, nicht nur einigen Auserwählten, sondern allen gewährt wird. Die Entwicklungen moderner Wissenschaft und Technik erweitern - bei allen Risiken, die sie mit sich bringen - diese Freiheitsspielräume für alle immer mehr. Deshalb werden sie von intellektuellen Eliten, die ihre Rolle als geistige Hirten der Menschheit in Gefahr sehen, mit Argwohn und Panik betrachtet, und die selbst ernannten Menschheitsdesigner werden deshalb nicht müde, mit immer neuen Alarmgesängen die Angst vor ihnen zu schüren.

Richard Herzinger

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