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Europa und die USA: Was kommt nach Multikulti?

Was Europa von den USA unterscheidet und warum es dennoch von Amerika lernen kann.

Der Historiker David Hollinger ist ein liberaler Kritiker von affirmative-actionProgrammen, den politisch umkämpften, aber erfolgreichen Fördermaßnahmen von Minderheiten in den Vereinigten Staaten. Hollinger hat nichts mit jenen Konservativen gemein, denen kulturelle und sprachliche Vielfalt ein Gräuel ist, im Gegenteil. Er will die Diskussion vorantreiben, weil sich die Situation seit den sechziger Jahren erheblich verändert hat. Eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft müsse in der Lage sein, „die Vorstellung zurückzuweisen, dass Herkunft Schicksal sei“. Hautfarbe und ethnische Herkunft seien keine ausreichenden Unterscheidungsmerkmale, auf denen soziale und politische Programme basieren könnten. Auch entziehe sich die Heterogenität innerhalb der Minderheiten, die in den USA in wenigen Jahrzehnten die Hälfte der Bevölkerung ausmachen werden, der Logik standardisierter Gruppenzugehörigkeit.

Migration und kulturelle Vielfalt sind demnach keine Randphänomene, die mit politischen Mitteln und bürokratischer Expertise lenkbar sind. Es geht vielmehr um grundsätzliche Fragen: Wie sollen unsere Gesellschaften künftig aussehen, wie sollen sie sich arrangieren? Nach welchen Kriterien wird über Zugehörigkeit entschieden und wie gehen wir mit demografischen Problemen und steigender Mobilität um? Migration und Pluralismus sind nicht weniger als der Lackmustest moderner Demokratien.

Vorschläge, die demografischen Probleme in Deutschland mittels Einwanderung zu lösen, erscheinen daher ebenso veraltet wie Debatten um die multikulturelle Integration. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die modernen Industriegesellschaften gefordert, ein neues, pluralistisches Selbstverständnis zu entwickeln, in dem Kultur und ethnische Herkunft entkoppelt sind und zunehmende Heterogenität nicht als Zeichen des Untergangs beschrien oder fatalistisch als unabänderbar hingenommen wird. Vielmehr sollten Initiativen ergriffen werden, die an die aufgeklärten Eigeninteressen der deutschen Gesellschaft appellieren.

Wirklicher Pluralismus bedeutet, kulturelle Offenheit und Inklusion bewusst auf allen Ebenen zu etablieren. Diese Maßnahmen müssen von einer zeitgemäßen Einwanderungs- und Antidiskriminierungsgesetzgebung flankiert werden, einschließlich der Möglichkeit mehrfacher Staatsangehörigkeiten sowie eines unnachgiebigen öffentlichen Konsensus gegen ethnische Rückständigkeit. Mit Gesten der Großmut gegenüber Einwanderern ist es nicht getan. Es geht um die Zukunft und die Lebensfähigkeit der Gesellschaft insgesamt.

Derzeit wird oft behauptet, man könne wegen der enormen Unterschiede nur begrenzt von den USA lernen: Amerika sei eine Einwanderergesellschaft, Deutschland eben nicht. Dieses Argument ignoriert die hundertjährige deutsche Geschichte erzwungener und freiwilliger Wanderungsbewegungen. Sie beginnt mit den polnischen Lohnarbeitern nach der Jahrhundertwende und setzt sich fort mit den Zwangsarbeitern in der NS-Ära, den ostpreußischen Migranten nach 1945 und schließlich den „Gastarbeiter“Rekrutierungen der sechziger Jahre. Auch der Blick zurück in die US-Geschichte gibt Aufschluss darüber, dass die Dinge komplizierter sind, als sie scheinen.

Seit der Gründung der nordamerikanischen Republik sorgte die Koexistenz von weltlichem Staat und religiösen Sekten für eine einmalige Dynamik des Umgangs mit Differenzen: Amerika ist der säkularste aller Staaten – und das Land des Glaubens par excellence. Hier fand eine demokratische Revolution statt, die Freiheit für Religion etablierte – und nicht, wie in Frankreich wenige Jahre später, die Freiheit von Religion. Der zweite Verfassungszusatz verbietet es der amerikanischen Regierung, Gesetze zur Religion zu erlassen: Die Erfahrungen religiöser Verfolgung in Europa waren bei den protestantischen Sekten in der Neuen Welt noch allgegenwärtig.

So wurde Religion de facto privatisiert, noch heute ist es in den USA einfacher, eine Kirche zu gründen als eine Firma. Die Konfessionen und Gemeinden organisierten sich regional und schufen ihre eigenen sozialen Einrichtungen, die Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert treffend als „Schulen der Demokratie“ bezeichnet hat. Die aktuelle Vitalität des Glaubens in den USA ist also kein Überbleibsel aus alten Zeiten, sondern Bestandteil einer modernen, säkularen Gesellschaft, die in ihrem Kern auf Abstrakta gründet: Verfassung, Rechtsstaat, Fahne. Religiöser Pluralismus und die Verwandlung von Religion in individuellen Glauben sind politische Errungenschaften – und ein Passepartout für den Umgang mit Differenz. Glaube und ethnische Zugehörigkeit sind folglich eingebettet in die Pluralität anderer Identifikationen und gründen sich auf die universelle Teilhabe an der Nation.

In Europa liegen die Dinge ganz anders. Den 30-jährigen Religionskriegen im 17. Jahrhundert folgte nicht die Säkularisierung, sondern die Konfessionalisierung der Staaten und die territoriale Fixierung von Kirche und politischer Macht: eius regio, cuius religio („wessen das Land, dessen der Glaube“). Boden und Religion gingen ein symbiotisches Verhältnis ein. Drei Jahrhunderte lang wanderten daraufhin die Minderheiten aus, vor allem nach Nordamerika. Die Auflösung der starren Konfrontation von Protestantismus und Katholizismus erfolgte letztlich durch Faschismus und Nationalsozialismus, im Namen der Auslöschung aller Minderheiten. Diese Befreiung von Religion durch Barbarei ist himmelweit vom säkularen Gründungsakt der USA entfernt.

In der Alten Welt wird dieser Akt in den 50er Jahren mit der Gründung der Europäischen Union nachgeholt. Ihr ökonomischer und politischer Erfolg in den Sechzigern machte sie zur idealen Projektionsfläche eines säkularen europäischen Selbstverständnisses, Integration erscheint als um 300 Jahre verspätete Komplettierung des Westfälischen Friedens. Doch die Säkularisierung ist unvollständig, denn sie basiert auf einem politischen Nachkriegskonsens, nicht auf emphatischem Einverständnis.

Die Europawahlen bieten die Chance für eine Diskussion darüber, wie die hiesigen Gesellschaften in 30 oder 40 Jahren aussehen sollen. Moderne Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitspolitik aktiviert kulturelle Kompetenzen und pluralistisches Selbstverständnis – allesamt unabdingbare Qualifikationen für die Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Dass daraus auch Standortvorteile auf dem internationalen Arbeitsmarkt resultieren, wie man in Australien, Neuseeland und Kanada beobachten kann, wäre nur ein Nebeneffekt. Um diese Diskussion anzustoßen, bedarf es kraftvoller Initiativen in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. Das Gegenteil ist jedoch der Fall.

Die Sprache der Einwanderungsdebatte ist meist so rückständig wie die verbreiteten Ressentiments gegen Fremde. Nur selten wird klar zwischen Einwanderungskontrolle, Asylgesetzgebung, illegaler Migration sowie integrationspolitischen Versuchen und den bescheidenen Versuchen der Anwerbung hochqualifizierter Arbeitskräfte unterschieden. Der amerikanische Gemeinplatz, dass Vielfalt und Heterogenität eine Gesellschaft stärken und dynamisieren, ist in Europa weitgehend unbekannt. Zu oft werden die Antworten auf gegenwärtige und zukünftige Fragen in der Vergangenheit gesucht.

Michael Werz lehrt am BMW Center for German and European Studies an der Universität Georgetown und ist Senior Transatlantic Fellow des German Marshall Fund of the United States.

Michael Werz

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