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Kultur: Eurydike schickt Orpheus fort

Ein neuer Geist und eine Birtwistle-Uraufführung beim traditionsreichen Aldeburgh-Festival in England.

Eurydike will nicht mehr. Statt sich zu freuen, dass Orpheus sie endlich aus der Unterwelt herausholt, erteilt sie ihrem Mann eine glatte Abfuhr: „I’m not the one I used to be“ verkündet sie. Und damit er das auch begreift, zerschneidet sie mit messerscharf deklamierten Textzeilen das Band der gesungenen Gefühle, das sie bislang an Orpheus geknüpft hat. Diese Frau bleibt lieber im Hades, als ins Eheidyll mit dem gefeierten Künstler zurückzukehren.

Die Wendung, die Harrison Birtwistle in seiner neuen Kammeroper für das Aldeburgh Festival dem alten Mythos gibt, ist verblüffend. In „The Corridor“ erscheint der edle Retter als selbstherrlicher Künstler, der seine Frau einfach wie einen gestohlenen Besitz zurückholen will und bislang offenbar keinen Gedanken an ihre Träume und Sehnsüchte verschwendet hat. Und wie in allen tragischen Opern – und im richtigen Leben – kommt die Erkenntnis auch in „The Corridor“ zu spät. Sobald Orpheus seine Frau zum ersten Mal wirklich anschaut und ihren Namen ausspricht, muss er erkennen, dass er sie längst verloren hat.

Ähnlich wie der Franzose Pascal Dusapin in seiner im vergangenen Jahr in Aix-en-Provence uraufgeführten Orpheus-Oper konzentriert sich auch Birtwistle auf diesen entscheidenden Augenblick, um den Zerrüttungsgrad der Ehe auszuloten. Und während die grellen, dissonanten Schmerzsignale der sechs Instrumente und die durchschlagenden hohen Töne von Elizabeth Athertons Eurydike auf der neuen Studiobühne der Konzerthalle von The Maltings anfangs noch von dem Versuch künden, vielleicht doch noch einmal zueinander zu finden, zeigt sich bald, dass die Beziehung nicht zu retten ist. Während die Frau langsam verschwindet, flüchtet sich der Künstler Orpheus in schöne, traurige Musik.

Rückwirkend erklärt „The Corridor“ so auch den ersten Teil dieses Doppelabends, mit dem das traditionsreiche Musikfestival nördlich von London, an der englischen Nordseeküste, seine Hommage an die bedeutendsten lebenden Opernkomponisten des Landes eröffnet. Am Schreibtisch lebt der vereinsamte Orpheus in „Semper Dowland“ nur noch der Kunst und sublimiert seinen Schmerz in den Lautenliedern und Lachrimae-Pavanen des elisabethanischen Mega-Melancholikers John Dowland, die Birtwistle in behutsamen Arrangements gleichsam ausgeschabt hat. Dünn ist das Eis, das hier den Abgrund der gescheiterten Beziehung verdeckt – als ob Mark Padmores Orpheus sofort einbrechen und versinken müsste, wenn er seinem hellen, leichten Tenor mehr Nachdruck verleihen würde.

Gleich in mehrfacher Hinsicht passt Birtwistles Operndoppel ideal nach Aldeburgh. Einmal, weil der Komponist von „The Minotaur“ und des in Berlin uraufgeführten „The Last Supper“ heute ebenso Aushängeschild der englischen Opernszene ist wie Aldeburgh-Gründer Benjamin Britten vor vierzig Jahren. Dann, weil Birtwistles Karriere vor vierzig Jahren genau hier, im Festspielhaus von The Maltings mit der Uraufführung von „Punch and Judy“ begann. Und drittens schließlich, weil die These der Sublimierung von persönlicher Seelenqual in große Kunst auf die Musik Brittens mindestens ebenso gut zutrifft wie auf die Opern von Sir Harrison.

Dass man die gut zweiwöchige Festivalsaison nicht mit einem Werk Benjamin Brittens (wie den in Aldeburgh uraufgeführten Opern „Albert Herring“ und „A Midsummernight’s Dream“), sondern mit brandneuer Musik beginnt, ist allerdings auch ein deutliches Signal an alle Traditionalisten, die von einem Britten-Bayreuth in den Marschen Suffolks träumen. Mehr noch als sein Vorgänger, der Komponist Thomas Adés, setzt der neue Festivalchef Pierre-Laurent Aimard auf konstruktive Verstörung und will den in den letzten Jahren etwas verblassten Ruf Aldeburghs als innovativstes, musikalisch interessantestes Festival der Insel aufpolieren. Kühn verschmelzt schon das Eröffnungswochenende Schuberts Ländler mit Stockhausens „Tierkreis“-Miniaturen, versammelt Einzelsätze und Miniaturen von Ligeti, Bartok und Beethoven zur bunten Konzertcollage. Auch vertraute Musik wie die Sinfonien Joseph Haydns sollen im Umfeld von Werken wie Ligetis 1962 entstandenem „Poème symphonique für 100 Metronome“ anders klingen, wünscht sich der französische Weltklasse-Pianist.

Ob es Aimard in seinen (vorerst) drei Jahren als Festivalchef gelingen wird, das eher konservative britische Klassik-Publikum zur Neugier zu verführen und für Komponisten wie den deutschen Quertöner Helmut Lachenmann zu begeistern, dessen neuer Liederzyklus „… Got lost …“ in diesem Jahr in Aldeburgh seine britische Erstaufführung erleben soll?

Die Eröffnung immerhin versprach viel. Zu Aimards Collage-Programm ist der große Saal von The Maltings fast so voll wie bei Schubert und Haydn. Selbst die hundert klackernden Metronome Ligetis finden genug andächtig lauschende Zuhörer – und sei es nur, weil im Foyer gleichzeitig eine Ausstellung skurriler historischer Zeitmesser aus der Sammlung des „British Horological Institute“ die schrullige Seite der Engländer anspricht. Aber so ticken eben die Briten.

Jörg Königsdorf

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