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Kultur: "Eyes Wide Shut" überstrahlt die Eröffnung

Stanley Kubricks letzter Film mit Nicole Kidman und Tom Cruise sorgt für einen glanzvollen AuftaktJan Schulz-Ojala Ein Ehepaar erzählt einen Film, so wie bei Tucholsky ein Ehepaar einen Witz erzählt: Nicole Kidman und Tom Cruise fallen sich so munter ins Wort, dass man am Ende überhaupt nichts mehr zu erfahren meint, von Pointen ganz zu schweigen. Macht nichts.

Stanley Kubricks letzter Film mit Nicole Kidman und Tom Cruise sorgt für einen glanzvollen AuftaktJan Schulz-Ojala

Ein Ehepaar erzählt einen Film, so wie bei Tucholsky ein Ehepaar einen Witz erzählt: Nicole Kidman und Tom Cruise fallen sich so munter ins Wort, dass man am Ende überhaupt nichts mehr zu erfahren meint, von Pointen ganz zu schweigen. Macht nichts. Mal ehrlich, ist irgend jemand auf diese bestens besuchte Pressekonferenz gekommen, um von den Protagonisten des letzten Kubrick "Eyes Wide Shut", wirklich etwas zu erfahren, das er nicht schon in 2381 Zeitungsartikeln über diesen Film gelesen hätte? Am wenigsten vielleicht jener junge, gutgekleidete Italiener, der nun aufsteht und umständlich zu reden beginnt. Schon hat er die Kurve gekriegt zu einer veritablen Liebeserklärung an Nicole Kidman, und nicht nur das, er hat eine Rose dabei, und nicht nur das, er eilt nach vorn und übergibt sie ihr, und nicht nur das, er will sogar noch - zum Dank - ein Küsschen dafür! Und nicht nur das: Er kriegt sogar zwei.

Oh ja, die Bodyguards haben gut zu tun an diesem ersten, turbulenten Tag des 56. Filmfests am Lido. Den nächsten Sondereinsatz verlangt ihnen Tom Cruise höchstpersönlich ab, am Abend, auf dem sanft ansteigenden Laufsteg zum Palazzo del Cinema, kurz vor der Europapremiere des Films. Im Flackern der Kamerablitze bewegen sich Kidman und Cruise langsam voran, winken, lächeln, lassen sich aufhalten, nun ja, was man so macht, wenn die Kameras der Welt auf einen gerichtet sind - und plötzlich springt Cruise von der Rampe und geht auf die Absperrung zu. Dutzende Frauenhände strecken ihm Autogrammzettel entgegen; er genießt es, er unterschreibt. Und dann Kidman: Erst eine kurze, lange Weile stehen gelassen, lässt auch sie sich, auf extrem hochhackigen Schuhen, vorsichtig herab und streift mit den Fingerspitzen über eine Reihe fremder Hände. Und beide wieder oben, wieder unerreichbar. Und ab. Ins Kino.

"Eyes Wide Shut" schlägt ein an diesem ersten Tag. Nicht wie letztes Jahr Steven Spielbergs "Saving Private Ryan" mit Getöse. "Eyes Wide Shut" setzt den Leuten, die ihn gesehen haben, einen Schuss. Sie haben einen Schuss weg. Sie taumeln. Und sind perplex. "Eyes Wide Shut" ist irritierend, faszinierend, enigmatisch wie sein Titel. Die Augen weit geschlossen haben wir, wenn wir träumen. Die Augen weit geschlossen hat jemand, der stirbt (vielleicht, weil er nur anders träumt?). Und die Augen weit geschlossen haben wir, wenn wir zu sehen meinen - und vor lauter Durchblick gar nichts sehen. Nächste Woche kommt "Eyes Wide Shut", der Widerhakenfilm, ins deutsche Kino. Was schon jetzt zu sagen ist: Selten führte die Fama, die einem Film voraneilt, so in die Irre. Fast drei Jahre von der ersten Klappe bis zur Premiere, Harvey Keitel abgesprungen, Jennifer Jason Leigh abgesprungen, Kidman und Cruise zwangsvereint in den Händen eines Perfektionisten: Vergessen Sie das alles, wenn Sie können. Selten auch erschienen die ersten kritischen Stimmen von einem sopanischen Erledigungsbedürfnis geprägt, nur um - schnell, schnell - etwas zwischen sich selbst und diesen Film zu tun. In Venedig jedenfalls ist es 159 Minuten lang mucksmäuschenstill im Kino. Und dass die Leute nach dieser Seh- und Denkerfahrung, die allen Klatsch ausradiert, nur sehr leise applaudieren, sollte man nicht gleich missverstehen.

"Eyes Wide Shut", über dessen Gegenstand Kubrick lange nicht hat reden wollen, weswegen alle Welt herumspekulierte (aber hätte er zur Vermeidung des Raunens reden müssen?), ist eine Literaturverfilmung. Gut, man weiß heute, dass Arthur Schnitzlers "Traumnovelle", in der ein Mann, aufgewühlt durch die anderweitige - erträumte - Verführbarkeit seiner Frau, sich selbst für die eigene Verführbarkeit öffnet (oder diese nur erträumt), Kubrick jahrzehntelang umtrieb. Aber will man das wirklich wissen? Gar zu ernüchternd für viele, dass der Meister, der mit den meisten seiner Filme den cineastischen Kosmos neu erfand, in seinem dreizehnten Werk, das ihm zum Vermächtnis geriet, auf schlichte Literatur zurückgriff (wie schon einmal, mit seiner mäßig gelungenen "Lolita" Anfang der sechziger Jahre). Und doch: So ungeheuer genau, wie Schnitzler schrieb, so genau hat Kubrick gefilmt. Dass er ein paar Akzente - auch im Humoristischen - anders setzte; dass er mit dem großartigen Sidney Pollack als Gastgeber der Gesellschaftsparty, mit der das Abenteuer seinen Lauf nimmt, eine Deutungsfigur hinzuerfand; dass er den Schluss ins Drastische, Hyperwahre zog; dass er die bei Schnitzler gehaltene Balance zwischen Mann und Frau atemraubend leise zugunsten der Frau verschob (ohnehin hilfreich, da Tom Cruise ein Star, aber kein Schauspieler ist): geschenkt. Alles Dinge, die uns das Rätsel Schnitzlers behutsam näherrücken, ohne es auflösen zu wollen. Kubrick ergründet, weiter nichts. Er geht bis zum Grund der Wörter. Er liest diese Geschichte mitunter so langsam, wie ein Kind lesen lernt. Und wir, die Zuschauer, die Buchstabenverbraucher, lesen wie zum ersten Mal, erfassen mit den Zeichen zugleich einen Sinn, erobern den Wahrnehmungskosmos wie aufs Neue.

Ein Beispiel. Das Beispiel. Die Schlüsselzene. Schlafzimmer, der Abend nach der Party, auf der sie mit einem Fremden lange tanzte, auf der er von zwei Models weggeführt wurde, bis ihn, den Arzt, sein Gastgeber zu einer höchst ungewöhnlichen Patientin rief. Das Ehepaar redet, es kifft ein bisschen, statt Hochprozentiges zu trinken (wie zu Schnitzlers Zeiten), es lässt den Vorabend Revue passieren, und unmerklich geht das Antippen in ein Ausforschen über. Der Mann gibt sich sicherer, als er sich fühlt. Das provoziert die Frau, sie reißt sich aus der Bettkantennähe los, stellt sich in den Türspalt zum Bad, wird von einem Lachkrampf geschüttelt, geht in die Knie, lacht, winkt ab, als sie ihren tumb blickenden Mann sieht, lacht und lacht. Und fängt an zu reden: von jenem Mann vor einem Jahr im Urlaub, ein Blickkontakt, ein Tag, und doch hätte alles, alles passieren können. Alles hätte sie aufgegeben, den Mann, die Tochter, die ganze "Scheißzukunft". Ein Geständnis. Das Geständnis. Bist du fremdgegangen? Viel schlimmer: Ich habe es mir erträumt. Nein, so sagt sie es nicht, natürlich nicht. Aber wie Nicole Kidman das spielt: eine Sternstunde des Kinos, oder waren es sieben Minuten.

Möchten Sie so einen Dialog erleben, zu Hause auf der Bettkante? Wie oft haben Sie Ähnliches selbst ungesagt sein lassen - mit Schnitzler gesprochen: "den Mund von vielen ungesagten Worten schmal"? Hier und dort hat man lesen können, Kubricks entschlossene Transposition des Stoffs vom Wien der zwanziger Jahre ins heutige New York tauge nichts. Wozu Schnitzlers olle Kamelle, wo wir doch in der Postmoderne der sexuellen Befreiung ganz andere Probleme hätten - doch nicht etwa als Vorwand für Kubrick, sich als Endsechziger noch einmal an nacktem Frischfleisch zu berauschen? Wie traurig. Die Orgie, die Tom Cruise maskiert und wie schlafwandelnd besichtigt, ist - auch ohne die für den US-Markt groteskerweise notwendigen digitalen Verdunkelungsversuche - eine dezente Metapher für die erotische Grenzüberschreitung pur. Oder die berühmte Spiegel-Szene, wie ein Trailer in den Film geschnitten: ungemein erotisch und zugleich philosophisch, als kurzer Versuch über das, was man selbst sein mag in den Augen des Geliebten, über das auch, was wir beide sein mögen vor den Augen Fremder. Schnitzler/Kubrick handeln von der Wahrheit der Träume, vom nackten, in allem - auch in der Sexualität - auf sich selbst gestellten Menschen. Und sie handeln von der Planetenferne zwischen Mann und Frau, sie messen sie ganz und gar aus. Natürlich ist das nicht auszuhalten.

Nachher kam Barbara Albert aus Österreich, 29 Jahre alt, mit ihrem ersten langen Spielfilm, "Nordrand", dem einzigen deutschsprachigen im diesjährigen Wettbewerb. Es geht um Zufallsnähen und -Lieben zwischen ein paar zwischen den Kulturen vagabundierenden Vorstadt-Jugendlichen in Wien. Schön ist das, frisch auch, aber verspielt, vertändelt. Und später: der polnische Regisseur und Schauspieler Jerzy Stuhr mit seiner "Woche im Leben eines Mannes", eines Staatsanwaltes, handwerklich gut, aber eben handwerklich. Das Publikum applaudierte bei der Pressevorführung überhaupt nicht. Der Rausch wirkt nach, wir haben die Augen weit auf und sind anderswo. © 1999

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