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Kultur: Fahrradreifen statt Karneval

Verstörende Fotokunst aus Brasilien im NBK

Vermauerte Hauseingänge in tristem Schwarz-Weiß. Die Amtseinführung von Präsident Lula 2003 in Brasilia – auch in Schwarz-Weiß. Ein heruntergekommener Boxclub in Rios Szeneviertel Lapa. Ein Tunnel, Dreck und Elektroleitungen. Eine Häuserwand, graffitibeschmiert.

Bonjour Tristesse, heißt es in Brasilien. Bunte Karnevalsbilder, der blaue Himmel über Brasilia, das prächtige Erbe von Barock und Kolonialismus? Fehlanzeige. Die junge Fotoszene, die der Neue Berliner Kunstverein (NBK) in seiner jährlichen Landesschau vorstellt, sucht den Verfall, nicht das Pittoresk-Folkloristische. „Selbst wenn es darum geht, Fußball zu fotografieren, konzentrieren sie sich nicht so sehr auf das Spiel, sondern fotografieren eher die Löcher im Rasen“, beklagt Alfons Hug. Er ist der Leiter des Goethe-Instituts von Rio und Kurator der beiden letzten Kunst-Biennalen von Sao Paulo sowie des Brasilien-Pavillons auf der letztjährigen Biennale von Venedig. Gemeinsam mit dem brasilianischen Kurator Fernando Cocchiarale hat er auch die Auswahl für die NBK-Ausstellung besorgt.

Fußball, das Thema des Jahres, kommt als Motiv im NBK überhaupt nicht vor. Und das, obwohl Brasilien mit der Copa da Cultura ein umfangreiches Kulturprogramm zur WM zusammengestellt hat. Es wird im Sommer auch im Berliner Haus der Kulturen der Welt gastieren. In Rio selbst veranstaltet Hug demnächst eine Ausstellung zum Thema „Kunst und Fußball“, angelehnt an die im Gropius-Bau gerade beendeten „Rundlederwelten“. Doch die Sorge, die Brasilien-Klischees zu bedienen, ist in der lokalen Fotoszene offenbar groß. Nicht von ungefähr stammt das einzige Urwald-Bild von einem Fotografen, Caio Reisewitz, der seine Ausbildung an der Düsseldorfer Kunstakademie erhielt.

12 Fotografen hat Hug ausgewählt, darunter Bekanntere wie den ehemaligen Fotojournalisten Miguel Rio Branco oder Rosangela Rennó, die mit ihren rot eingefärbten Foto-Funden auch schon in Venedig zu sehen war. Andere sind eher Neuentdeckungen, wie der bislang nur als Maler bekannte Emmanuel Nassar, der Hauswände und Fahrradreifen fotografiert, mit sicherem Blick für malerische Farbeffekte.

Und doch sticht einer hervor: Caio Reisewitz, Jahrgang 67, ist die große Entdeckung von Alfons Hug. Seine opulenten Großformate von Rios Barockkirchen und Bibliotheken, erkennbar in der Tradition Candida Höfers, waren Highlights der Sao Paulo-Biennale und auch im Brasilianischen Pavillon in Venedig zu sehen. Für Berlin hat Hug andere Motive gewählt: Naturfotografien, Urwald und Seen, eine Straße windet wie ein leuchtender Fluss durch das Grün, im Hintergrund verschwimmen die Berge in schönstem Sfumato. Die Großformate, auch die Arbeit in Serien, hat Reisewitz wohl in Düsseldorf gelernt.

Das eindrucksvollste Bild jedoch zeigt Rufo, einen Hausmeister in Rio: eine monumentale Figur, halb abgewandt nach hinten blickend, realistisch und überhöht zugleich, eher Beat Streuli als Düsseldorfer Schule. Auf Reisewitz wird man achten müssen.

Zeitgenössische Fotokunst aus Brasilien, NBK, bis 26. Februar, Di bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Sa und So 14 bis 18 Uhr, Katalog (Edition Braus) 19 Euro.

Christina Tilmann

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