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Kultur: Falten der Seele

Leonardos Nelken-Madonna in der Münchner Alten Pinakothek

Es ist nur eine kurze Vision, ein kleiner Moment, in dem man sich die Forscher des Münchner Doerner-Instituts in ihrem Labor mit Riesenlupe und Tweedhütchen wie Sherlock Holmes vorstellt. Denn dort haben sie – allerdings mit Hilfe eines Röntgengeräts – einen Fingerabdruck des Meisters höchstpersönlich am Gemälderand entdeckt. Die Papillarlinien deuten auf den rechten Daumen hin: Sensation! Und doch führt diese Spur nicht weiter, denn für eine forensische Untersuchung und Identifizierung des Universalgenies reicht der Abdruck nicht aus. Dafür ist er zu verschmiert. Die Kunsthistoriker wussten das alles viel früher schon; sie erstaunt der spektakuläre Fund weit weniger. Denn auch auf anderen Leonardo-Bildern finden sich solche Verweise auf den Maler selbst, der gerne mit den Fingern die zähe, pastige Farbschicht auf der Leinwand zu verreiben pflegte und später dann beim Festhalten am Rand kurz kleben blieb.

Schon lange, nicht erst seit Dan Browns „da Vinci-Code“, ist Leonardo ein beliebtes Objekt detektivischer Untersuchungen. In München allerdings spielt der Thriller in der Realität, wenn es dabei auch nicht um Mord, sondern um eine Ausstellung in der Alten Pinakothek – spannend wie ein Krimi – geht. Im Zentrum steht Leonardos „Madonna mit der Nelke“ (um 1475), dem einzigen da Vinci-Bild in deutschem Museumsbesitz. In einem mehrjährigen Forschungsprojekt waren die Wissenschafter dem Werk mit Infrarotreflektografie, Aminosäureanalyse, Rasterelektronenmikroskopie zu Leibe gerückt, um mehr zu erfahren über Technik, Machart, Zeitumstände.

Aus dem Labor zurückgekehrt, zeigt sich die Himmelskönigin strahlender denn je. In der Ausstellung wird sie umringt von Kolleginnen aus Berlin, Washington, London und Florenz. Pietro Perugino, Andrea del Verrocchio, Fra Filippo Lippi, Lorenzo di Credi geben sich die Ehre, ein Spitzentreffen der Renaissancemaler, wie es sich so nie wiederholen lässt. Was das Doerner-Institut akribisch herausgefunden hat und mittels Röntgenbildern, Perspektivlinien und Darstellung der Einzellasuren in einer eigenen Abteilung erzählt, beginnt gleich nebenan in der Konferenz der Madonnen und Jesusknaben zu schweben und sich aufzulösen. Hier ist wieder alles religiöse Andacht, göttliche Verehrung. Gerade in dieser Ambivalenz besteht der Reiz der Schau, die zugleich die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse vorführt und die künstlerische Leistung durch die Begegnung mit Zeitgenossen würdigt.

Ein wenig Rückendeckung kann die Münchner Madonna tatsächlich gebrauchen, die sich erst seit 1889 im Besitz der Alten Pinakothek befindet. Damals erwarb das Haus das mutmaßliche Leonardo-Werk für gerade einmal 800 Mark von einem Arzt aus dem bayerischen Günzburg, von dem bis heute niemand so recht weiß, wie es über die Alpen ausgerechnet in dieses Örtchen gekommen war. Prompt entflammte ein Streit über die wahre Autorschaft, in welchem der italienische Leonardo-Kenner Gustav Morelli ohne Ansicht des Originals hämisch von einer „Leonardo-Taufe am Isar-Strand“ sprach.

Erst vierzig Jahre später wurde diese schnöde Aberkennung wieder revidiert. Heute gilt die Madonna zweifelsfrei als Leonardo-Werk, auch wenn bei den jüngsten Röntgenuntersuchungen immer noch keine Signatur aufgetaucht ist. Ja, man beginnt ihr sogar Nachlässigkeiten nachzusehen, für die sie früher bei den Kunsthistorikern auf dem Kieker stand: der krumpelige Teint des Madonnengesichts, das Stoffgeknautsche vor ihrer Brust oder die Imponderabilität des Jesusknaben, den Maria mit beherztem Griff in den Babyspeck gerade noch hält.

Heute weiß man, dass hier der Erschaffer der „Mona Lisa“, der „Anna Selbdritt“ oder der Felsgrottenmadonna als 23-Jähriger am Anfang seiner Laufbahn stand und doch schon das berühmte sfumato, die Lichthaltigkeit seines Farbauftrags, und das Seelenhafte zu malen verstand. Auch die bösen Falten im reinen Marienantlitz sind dank jüngster Untersuchungen nun verziehen, denn Leonardo hat in diesem Bild als einer der ersten Künstler die Technik der Ölmalerei ausprobiert, aber noch nicht das richtige Verhältnis von Farbpigmenten und Öl hingekriegt.

Stattdessen findet nun das Gestenspiel zwischen Maria und Jesuskind Würdigung, das Leonardos eigenen Anforderungen bestens entspricht. „Ein guter Maler hat zwei Dinge zu malen“, hatte er in seinem „Buch von der Malerei“ erklärt: „den Menschen und die Absicht seiner Seele“. Im Münchner Bild hält die Madonna jene Titel gebende Nelke dem Jesusknaben hin. Er greift danach und zuckt doch zurück, als wüsste er um das Leid, das sich mit der Nelke als Passionssymbol verbindet. Die Maria schlägt darüber demütig die Augen nieder, während ihr Sohn offen in den Raum sieht.

Ein Topos, der sich in den Madonnenbildern rundum wiederholt: Maria mit gesenktem Blick, der sitzende Knabe daneben dem Betrachter offen zugewandt. Auf diese Weise holt er ihn ins Geschehen hinein und verleitet ihn zu ähnlicher Andacht wie Maria. In dieser Regieführung ist Leonardo schon ganz Meister, auch wenn er noch in der Werkstatt seines Lehrers Andrea del Verrocchio tätig ist. Dort begannen zahlreiche große Künstler ihrer Karriere, Perugino, Botticelli, di Credi. Sie alle nahmen diesen Bildtypus mit für die privaten Andachtsbilder der reicher Florentiner. In München aber gilt die Andacht dem Künstler.

Alte Pinakothek, bis 3. Dezember, Katalog (Schirmer/Mosel Verlag) 39,90 €.

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