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Kultur: Fantasie als Bauherr

Imaginäre Architekturen: eine Ausstellung in Barcelona

Man kommt aus dem Halbdunkel des Saals und steht plötzlich vor einem Türrahmen aus Licht. Man schlägt einen Vorhang zurück, schlüpft hindurch und ist umgeben von Weiß, gestaltlosem Weiß, einer Art hochkonzentriertem Nebel, der jenseits des eigenen Körpers alles verschwinden lässt.

Mit Ann Veronika Janssens Installation endet eine außergewöhnliche Ausstellung „Die Stadt, die nie existierte“ in Barcelonas „Centre de Cultura Contemporània“. Sie sollte damit beginnen. Denn inmitten der weißen Kammer, eingehüllt in nichts als Nichts, befindet man sich gewissermaßen am Nullpunkt der Architektur. Wenn die Welt nur bis zu den eigenen Fingerspitzen reichte, bräuchte man keinen Gedanken aufs Zusammenleben und dessen Struktur zu verschwenden. Andererseits: So ganz mit sich allein gewinnt man Raum für die Fantasie. Auch der Kopf kann eine weiße Kammer sein. Und im Gegensatz zum Architekten darf der Künstler sich darin frei bewegen, denn seinen Entwürfen setzen weder Bauherr noch Budget oder Statik Grenzen.

Die fantastischen Architekturen erkunden, was eine Stadt ausmacht und was sie auslöst, was an ihr faszinierend ist und was furchterregend. Von neapolitanischen Fresken aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert reicht die Ausstellung über barocke und romantische Monumentalmalerei bis hin zur aktuellen Fotografie oder DVD-Produktion. Zunächst scheint die Ausstellung zu klein, weil man immer noch andere Bilder im Kopf hat, die hier nicht zu sehen sind. Am Ende ist man sehr zufrieden mit der Auswahl. Denn die Unvollständigkeit des Panoramas gehört selbst zum Thema.

Bei den Städten, die nie existierten, handelt es sich nie um komplette, durchgeplante Städte, sondern vor allem um visionäre Entwürfe, oft nur Bruchstücke, irgendwo zwischen Traum und Albtraum. Die Künstler setzen die eigene Fantasie ein und vertrauen dann auf die des Betrachters. Wenn Miquel Navarro verschieden geformte Ton- oder Metallklötzchen von Feuerzeug- bis Schirmständergröße in Formation über den Fußboden verteilt, sieht der Besucher darin automatisch Städte, mit Magistralen, Hochhäusern und Vororten. Dabei verdankt sich der „Wiedererkennungseffekt“ einem im Grunde unmenschlichen Blick: dem aus dem Himmel herab. Wir haben bestimmte Ordnungen als „städtisch“ zu lesen gelernt. Das macht sich Navarro für sein Spiel mit Klötzchen- und Zeichensystemen zunutze.

Im 16. und 17. Jahrhundert warfen Maler wie Hans Vredeman de Vries, Francisco Gutiérrez oder François de Nomé monströse Paläste und Bogengänge auf die Leinwand, herrschaftliche Plätze, durchzogen von gewaltigen perspektivischen Fluchten. Ihren Fantasien von aufgeräumten Zentren der Macht, von vermeintlich erhebenden Plätzen ist alles Spielerische verloren gegangen. Die Szenen gepflegten Lebens, die nachträglich ins steinerne Herz der Szene hineingemalt wurden, markieren die Leblosigkeit der Orte. De Chirico hat später die Ausstrahlung solcher Werke aufgegriffen und ihr implizites Vakuum zum eigentlichen Thema gemacht.

Man muss keine grandiosen Brücken ausspannen oder riesige Treppen aufschichten, wie Hubert Robert und Bernardo Bellotto im 18. Jahrhundert, um die architektonische Spannung ins Gespenstische zu verschieben. Mitunter reichen Licht und Schatten, wie in den schlichten, in schwarzweiß gemalten Raumfantasien von José Manuel Ballester. Nackte Wände, Türspalte, leuchtende Flecken am Boden. Was sich in den Bildern sammelt, ist Erwartung, Ahnung, Neugier. Ballester imaginiert keine Stadt, nicht einmal ein ordentlich ausgestattetes Zimmer. Er gibt der Vorstellungskraft nur das Konzentrat dessen, was sie auf Trab bringt.

Ist nicht am Ende jede Großstadt eine Stadt, die es nicht gibt, nämlich vor allem eine Fantasie über ihre Möglichkeiten? Ob man in Berlin lebt, in Barcelona oder New York: Zu jedem Zeitpunkt baut man sich „die Metropole“ eher im Kopf zusammen als dass man sie konkret und in ganzer Fülle vor Augen hat. Man lebt ebenso sehr in einem imaginären wie in einem realen Raum, und die Spannung zwischen dem Sichtbaren und dem Ahnbaren macht oft den Reiz der Stadterfahrung aus. Die fotografierten Stadtansichten von Olivo Barbieri zielen auf dieses Verhältnis – durch Unschärfe. Barbieri zeigt eine Straßenkreuzung in Lhasa oder ein Skyline-Modell von Shanghai und fokussiert nur jeweils einen Spalt des Bildes. Rundherum verschwimmen die Gebäude im Nebel. So ist die Stadt, die es nicht gibt, von der Stadt, die es gibt, nur durch eine Schärfeverschiebung getrennt. Jenseits des konkreten Details beginnt schon die Fantasie. Und die Fantasie ist, wie jede Großstadt, die etwas auf sich hält, ein monströses Durcheinander.

Barcelona, Centre de Cultura Contemporània, bis 1. Februar 2004; anschließend im Museo de Bellas Artes Bilbao.

Merten Worthmann

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