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Rebell. Maxim Kantor, „Mann vor rotem Haus, sich an den Kopf fassend“.

©  Villa Schöningen

Kunst der Glasnost-Zeit: Farbtupfer der Wahrheit

Sie wurde bejubelt - und dann schnell vergessen: Kunst der Glasnost-Zeit in einer Ausstellung in der Potsdamer Villa Schöningen.

Glasnost und Perestroika (Offenheit und Umgestaltung): Wohl kaum zwei politische Losungen der jüngeren Geschichte haben sich so ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben wie diese. Als Michail Gorbatschow im März 1985 das Amt als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion antritt, setzt er tiefgehende gesellschaftliche Umwälzungen in Gang. Die Beziehungen zwischen Ost und West entspannen sich, innenpolitische Restriktionen werden abgebaut. Der Eiserne Vorhang öffnet sich. Auch für die Kunst.

Nonkonformistische Künstler, die es in der Sowjetunion seit Beginn des kommunistischen Systems gegeben hat, betreten die Bühne der internationalen Kunstszene. Plötzlich tauchen sie in Köln, Paris, Bern, New York auf. In Moskau lädt Sotheby’s westliche Investoren zu einer ersten Auktion ein. Im niedersächsischen Emden, in der vom früheren Stern-Herausgeber Henri Nannen gegründeten Kunsthalle, werden 1988 Arbeiten nonkonformistischer Künstler gezeigt. Teile dieser Schau sind jetzt anlässlich des 30-jährigen Bestehens der Kunsthalle unter dem Titel „Kunst aus der Glasnost-Zeit“ in der Potsdamer Villa Schöningen zu sehen.

Jedes der fünfzig Werke ist auf seine Weise ein Aufbegehren, eine Rebellion gegen das ästhetische Diktat des Sozialistischen Realismus, ein Bruch mit den fetischisierenden Darstellungen revolutionärer Fantasien von Alltagshelden und Führern. Die Nonkonformisten werfen all das über Bord. Sie malen expressiv, experimentieren mit abstrakten Formen und amerikanischem Fotorealismus, ironisieren beliebte Bildmotive oder üben offen Sozialkritik.

Ausdruck gemalter Menschenwürde

Als ihre Bilder 1988 in Emden präsentiert werden, ist der Zuspruch überwältigend. Die Kunstkritiker entwickeln aus den Werken ganze Erzählungen, die Zeugnis über den Schrecken des sowjetischen Sozialismus ablegen, jeder Pinselstrich wird zum Farbtupfer der Wahrheit, jede Leinwand zum Ausdruck gemalter Menschenwürde. Die Menschlichkeit, sagt Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei der Eröffnung, werde in diesen Werken wieder sichtbar. Das Individuum kehrt zurück, in Gestalt des Künstlers. Er wird zum Symbol, zum Stellvertreter für das Leid, das den Menschen in der Sowjet-Diktatur widerfahren ist.

Maxim Kantor, dessen Werke auch den Schwerpunkt der gegenwärtigen Ausstellung bilden, macht daraus eine fast christliche Mission: Das Leiden der Menschen wird bei ihm zum Wesentlichen der Kunst. In seinen Bildern, die stark an den deutschen Expressionismus erinnern, ist es allgegenwärtig. Man sieht Menschen, eingesperrt in die Psychiatrie. Ihre Gesichter sind von Schrecken und Entsetzen gezeichnet oder blicken apathisch in die Leere. Die Hände krallen sich aneinander fest, Münder sind zum stummen Schrei geöffnet. Kantor will jenen eine Stimme verleihen, die nicht imstande sind, selbst zu reden.

Das andere große Thema seiner Kunst ist das „rote Haus“, so der Titel einer Serie und auch der Name seiner Künstlergruppe. Die Bilder zeigen kalte, abweisende Ziegelsteinfassaden, unnahbar, gesichtslos, verschlossen. Das perfekte Symbol für den totalitären Unrechtsstaat. Der gerade 30-jährige Kantor, gebildet, rebellisch, wird immer wieder aus der damaligen Schau hervorgehoben, gelobt, hofiert.

Genauso Lenina Nikitina, fast doppelt so alt wie er und eine der wenigen Frauen. In ihren Bildern verarbeitet die Laienmalerin ihre schrecklichen Erfahrungen, wie in „Man will ja leben“ von 1973, in dem sie dem Hungertod ihrer Familie während der Belagerung von Leningrad im Zweiten Weltkrieg ein tragisches Antlitz verleiht. Eine schwarze Katze sitzt auf einem Baumstumpf, schaut ängstlich den Betrachter an. Über ihr erhebt sich ein Schatten, der zu einer Frau gehört, Nikitinas Mutter. Sie hält eine Axt, holt aus. Nikitina, die neben ihr steht, hält die Katze fest. Ruhig, an das Elend, den Tod, gewöhnt.

Eine Öffnung wird zum Paradox

Wahrheit und Freiheit sollen 1988 als Themen mit diesen Bildern der Anklage intoniert werden – mit Künstlern, die in das Bild des Außenseiters passen, deren Leben von Unrecht geprägt ist. Dreißig Jahre später wird diese Narration nicht mehr explizit bedient. Aber was die heutige Schau der damaligen voraushaben könnte, fehlt trotzdem weitestgehend: historische Distanz, kritische Einordnung.

Glasnost und ihre Auswirkungen auf die Kunst Russlands und der ehemaligen Sowjetstaaten, erweisen sich, aus heutiger Sicht betrachtet, als ungleich komplexer. Die Öffnung wird zum Paradoxon, einem Sieg, der tragische Folgen hatte und destruktive Mythen entstehen ließ. Dazu gehört auch das Bild vom Nonkonformisten als politisch Verfolgtem, wie ihn 1988 noch der Stern zelebriert hat, der aber eine Ausnahme war. Die meisten staatskritischen Künstler führten in der Sowjetunion ein durchschnittliches, vergleichsweise privilegiertes Leben. Ihnen war zwar verboten, ihre Kunst öffentlich auszustellen. Aber sie arbeiteten als Lehrer oder Grafiker, stellten im Untergrund aus: in Wohnungen, Ateliers, Salons. Die inoffizielle Kunstszene umgibt die Aura des Verruchten. Es ist eine Zeit der „festlichen Melancholie“, wie Boris Groys es bezeichnete – ohne die Mechanismen des Marktes.

Glasnost schenkt den Nonkonformisten eine neue Freiheit, nimmt ihnen aber die alte Unabhängigkeit. Sie gewährt ihnen öffentliche Sichtbarkeit, drängt sie aber nach kurzer Zeit in die Vergessenheit. Ihre Individualität wird als Widerstand exemplarisch. Das Interesse des Westens flackert auf, ein Strohfeuer, das auch von der politischen Dringlichkeit zehrt.

Als der „Russen-Boom“, so die Formulierung der Kunstwissenschaftlerin Elena Korowin 2015, in den 90ern sein Ende nimmt, ebenso wie das Sowjet-System als antagonistischer Gesellschaftsentwurf zum Westen, verhallt der internationale Ruhm vieler nonkonformistischer Künstler. Nur wenige, die heute gezeigt werden, können ihn darüber hinaus aufrechterhalten. Maxim Kantor ist der Prominenteste.

Die aktuelle Schau rückt einige ihrer Arbeiten wieder in den Blick, doch sie schafft es nicht, über das Sichtbare hinaus die Bedingungen ihres Entstehens und Verschwindens kritisch zu beleuchten. Das ist die paradoxe Doppelnatur von Glasnost heute: zeigen, bei gleichzeitigem Vergessen.

Potsdam, Villa Schöningen, Berliner Straße 86, bis 26. Februar, Do bis So 10 - 18 Uhr

Von Giacomo Maihofer

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