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Entfesselte Elemente. Waldbrand in der Nähe von Tschernobyl.

© dpa

Fassungslos oder gefasst: Unser Blick auf Naturkatastrophen

Feuerwalzen, Wassermassen, Schlammlawinen: Sind wir noch fassungslos oder schon gefasst? Wie sich unser Blick auf Naturkatastrophen verändert.

Irgendwann wird das womöglich normal sein. Die Mark Brandenburg wird Jahr für Jahr in Buschfeuern weggesengt. Spree und Havel quellen wechselweise über die Ufer oder lassen uns hechelnd auf dem Trockenen sitzen. Tornados rütteln an den Rümpfen der wenigen verbliebenen Hochhäuser. Wir werden eingeübt sein ins Unvermeidliche – und trickreich überleben.

Aber jetzt? Sind wir noch fassungslos oder schon gefasst? Zumindest sind wir irritiert. Zwar greifen die bewährten Mechanismen des Vergessens nach wie vor, aber wenn sich ständig neue Hiobsbotschaften aufdrängen, kann man ihnen kaum mehr folgen. Mit noch abgefederter Sorge vernehmen wir Nachrichten aus einer Ferne, die näher und näher zu rücken scheint. Kaum haben wir „Lothar“, „Katrina“ und „Kyrill“ vergessen, den Tsunami in Thailand, die Waldbrände in Griechenland, die Erdbeben von Sichuan oder Haiti, kaum sind BSE, Schweine- und Vogelgrippe registriert und amtlich für beendet erklärt worden, jagt ein neues Desaster das nächste.

Die Aschewolke aus Island, die Ölpest im Golf von Florida, die Fluten in Pakistan, Waldbrände in Russland, steigende Fluten an Neiße und Spree. Die Zeitungen kommen, Hase und Igel, den Katastrophen kaum hinterher. Meldungen wie die über eine Schlammlawine in China (1100 Tote) oder vom kalbenden Gletscher in Grönland schaffen es kaum noch oder erst mit Verspätung in die Medien.

Gibt es Fieberthermometer zum Messen von Katastrophenständen? Wird es tatsächlich immer schlimmer, oder handelt es sich um ein gefühltes Katastrophenwachstum? Nimmt man die Statistiken zum Maßstab, steigt die Kurve unaufhaltsam. Die Zahl der Todesopfer von Großkatastrophen wächst dramatisch, ebenso die Höhe der kalkulierten Schäden. Das muss nicht die Wahrheit in letzter Instanz sein. Denn diese Art der Zählung und Kalkulation, die die Opfer und Folgen von Desastern bemisst, ist ja ein sehr junges Phänomen. Um es drastisch zu sagen: Wie die Fortschritte der Medizin die Zahl der Krankheiten und Erkrankten hochschnellen lässt, so erhöht auch die ständige Verbesserung von Erfassungsverfahren das Ausmaß der Katastrophenschäden.

Oder haben wir es schlicht mit einer Konsequenz der Globalisierung zu tun, auch der medialen Globalisierung? Rücken uns die Katastrophen deshalb näher, weil die Fotoapparate und Fernsehkameras der Reporter ihnen immer schneller, gründlicher und unerbittlicher auf der Spur sind? Das scheinbare Katastrophenwachstum wäre so gesehen ein Resultat von Weltschrumpfung. Kein Winkel bleibt unausgeleuchtet, jede Überschwemmung, jedes Erdbeben, jeder Hurrikan wird aufklärend dem Dunkel entrissen und massiv dem Globus präsentiert.

Dass die Mächtigen dieser Welt, die gerne so tun, als ob sie die ihnen scheinbar verbündeten natürlichen Elemente im Griff haben, unter diesem medialen Druck eine halbherzige Öffentlichkeitspolitik betreiben und erst in höchster Not eingestehen, dass der Boden auch ihnen gelegentlich unter den Füßen schwankt, trägt wiederum dazu bei, dass die „gefühlten“ Katastrophen dramatisch wachsen.

Über das tatsächliche Katastrophenwachstum und die Frage, ob es sich eigentlich um Naturkatastrophen oder um von Menschen verantwortete „Sozialkatastrophen“ handelt, werden die wissenschaftlichen Experten weiter streiten. Auch die Öffentlichkeit wird nicht müde, darüber zu diskutieren: ob die Kultivierung und Zivilisierung der Erde nicht automatisch ein Krisenmotor ist. Dieser Streit aber ist kein bloßer Streit über Zahlen, Statistiken und Argumente. Schon die Suche nach ihnen verdankt sich bestimmten Einstellungen und Mentalitäten. Gäbe es eine ausformulierte Geschäftsgrundlage des Disputs, gehörten diese Mentalitäten unbedingt in den Paragrafen eins: Bilder, Phantasmen, Emotionen leiten unser gewachsenes Katastrophenbewusstsein.

Denn die öffentliche Gefühlslage ist in Bewegung geraten, die Gefühlshaushalte sind fahrig geworden. Die Sicherheitsversprechen der Moderne greifen nicht mehr, sie kassieren sich nach und nach selbst. Nicht nur die Erde wankt, nicht nur die Natur bebt. Das ganze System, das uns versprach, das Schwanken der Erde in den Griff zu bekommen, auch das unberechenbare Schwanken des Schiffleins Kultur, ist in Erosion begriffen: Aktien erweisen sich massenweise als Flop, Rentenanleihen werden Makulatur, Megakonzerne kollabieren, scheinbar florierende Staaten machen bankrott. Und man hat nicht gerade den Eindruck, dass das erodierende System sich stabilisiert oder gar neu sortiert. Die fetten Jahre sind unwiderruflich vorbei. Das, was unendliches Wachstum und Sicherheit versprach, schüttelt sich und uns in Krisen. Vater und Mutter Staat, die robusten und fitten Organismen für automatische Wohlstandsschöpfung, haben die Schwindsucht. Sie zehren sich aus, gehen mehr als den Bach herunter. Das ändert auch unseren Blick auf Naturkatastrophen.

Leicht verstört, starren wir unserem Wohlstand hinterher, blinzeln durch die ersten Risse unseres Sicherheitskokons und erblicken, was uns ohnehin schon schwant. Die Erde, die dieses Jahr in Chile und Haiti bebte, bebt auch im Urstromtal der Spree, auf dem Teltow und dem Barnim. Die Fluten, die Pakistan heimsuchen, spülen auch Gewissheiten zwischen Oder, Ems und Isar hinweg. Sind wir auf dem Weg in die Nachmoderne? Oder eher in die Vormoderne? Welche Vorstellungen, welche Phantasmen beschäftigen und bewegen uns?

Flammenmeere, Flutwellen, entfesselte Natur. Mit den Bildern, die uns umflimmern, bricht auch Archaisches auf. Das dunkle Dämmern einer ungekannten Wahrheit, eine Drohung, die keinen anderen Namen hat. Imaginär – und ja nicht nur das – bedrängen uns erneut elementare Gewalten. Nicht der Mensch ist das Maß aller Dinge und Herr alles Irdischen, sondern Feuer, Wasser, Erde und Luft führen das Regiment. Beim Anblick der entfesselten Elemente spielen wir in unserer nach wie vor komfortablen Lage durch, was uns bevorstehen könnte. Und wir spielen es durch an Modellen einer Vergangenheit, von der wir nicht viel mehr besitzen als mythisch gewendete Versatzstücke.

Diese stammen aus dem Bilderbuch der Aufklärung, in dem das überwunden geglaubte Mittelalter so finster wie möglich ausgemalt wurde. Erhellt war es lediglich von regelmäßigen Bränden der städtischen Fachwerkhütten, heimgesucht war es von verheerenden Fluten der nicht eingedeichten Flüsse, verpestet war es von Seuchen in schmutzstarrenden Städten. Feuersbrünste! Land unter! Die große Pest, das große Sterben! Mit diesem Rüstzeug und mit dem Zerbröckeln des Sicherheitscontainers „Moderne“ blicken wir verängstigt auf die Krisen der Gegenwart. Gleichzeitig blicken wir via Vergangenheit in die Zukunft. Das speist auch die Empathie.

Es ist, als nähmen wir mit unserer Anteilnahme etwas vorweg, was uns selbst bevorstehen könnte. Wir sind bei den Leidenden, bei den Opfern. Und trotz aller Gewöhnungsroutinen tragen die Bilder des Leidens dazu bei, nicht nur Mitleid zu mobilisieren, sondern auch Mithilfe. Oft ist es gar nicht individuelle Hilfe, aber die Bilder sorgen für Einverständnis mit staatlichem Hilfsengagement wie mit dem von nichtstaatlichen Organisationen. Auch hier gelten, das wird kaum überraschen, bestimmte Hierarchien. So ist das Spendenaufkommen für Pakistan bislang überschaubar. Die Oderfluten liegen uns eben näher als die des Indus. Auch die im Jahr 2004 von Tsunamis verwüsteten Küsten asiatischer Urlaubsparadiese sind uns unendlich wichtiger als touristisch unerschlossene Krisenregionen am Hindukusch, für die aufgrund der unsicheren politischen Lage auch noch offizielle Reisewarnungen ausgegeben werden.

So bleibt, trotz aller Anteilnahme, der Blick auf die Desaster dieser Welt hauptsächlich der in den Spiegel unserer Gegenwart und vor allem der Zukunft. Was wird sie bringen? Der Lauf der Welt, geht er weiter unablässig und unbeirrt voran, oder dreht sich die Erde letztlich doch immer nur um sich selbst? Fest steht schon jetzt: Einübungen ins Katastrophische können nicht schaden.

Der Autor ist Philosoph und lehrt am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.

Olaf Briese

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