zum Hauptinhalt
Valery Tscheplanowa als Margarete/Helena und Martin Wuttke als Faust mit Goethe-Maske.

© Thomas Aurin

"Faust" als Finale: Intendant Castorf nimmt Abschied von der Volksbühne

Die Inszenierung dauert gut sieben Stunden. Es gibt Videohöhlen, Musik und Kolonialismuskritik.

Große Überraschung! Es wird Text gespielt. Die nibelungentreuen Volksbühnenhelden sprechen in der letzten Schlacht tatsächlich Verse, erkennbar von Goethe, gereimt und verständlich, Greatest Hits of JWG, „Es war ein König in Thule“, „Vom Eise befreit ...“, auch wenn es hier klingt wie eine leicht parodistische Coverversion.

Noch eine Überraschung: Die Premierenvorstellung braucht nur gut sieben Stunden für die Abschiedsreise ans Ende der Nacht, und nur zu Beginn gibt es eine kleine Stichelei gegen den Nachfolger Chris Dercon, der ab der nächsten Spielzeit die Volksbühne führt.

Nach diesem „Faust“-Finale wird die Übernahme nicht leichter. Oder doch: Eine Ära endet würdig. Es ist ein starker Abgang. Kein Selbstmitleid, keine billigen Witze. Noch einmal packt Castorf die große Form aus. Genialisch, schluffig, aggressiv, assoziationswütig, so wie man ihn kennt und liebt und oft nicht aushalten kann. Bloß in der zweiten Hälfte und höchstes zwei, drei Stunden hängt der Abend durch. „Vorbei, ein dummes Wort“, heißt es demonstrativ am Ende. Dazu läuft „It’s All Over Now, Baby Blue“. Alles hat ein Ende, nur der „Faust“ hat zwei. Drei, vier, viele ...

„Wer hat die Scheißwette eigentlich gewonnen?“

Faust-Darsteller Martin Wuttke liegt tot auf den Brettern vor der Vaudeville-Bühne mit der Leuchtschrift „L’Enfer“, Hölle. Der leicht genervte Mephisto Marc Hosemann stelzt auf Ölfässern heran, muss einen kleinen schwarzen Hund Gassi führen, macht sich immerzu an irgendetwas oder irgendwem zu schaffen. Nackt und überlegen steht Valery Tscheplanowa als Margarete/Helena mittendrin und behält die Nerven. Diesen Part füllt sie in all den Stunden wunderbar ruhig und mit großer Neugier aus: Wie sich die Typen verrückt machen. Das „EwigWeibliche“, es hat die Castorf-Bühne immer schon hinangezogen. Die Männer warten auf den Nervenzusammenbruch. Habe nun, Krach!

Also, es ist zu Ende, wenn Castorf sagt, dass es zu Ende ist. Selbst seine besten Inszenierungen – dieser „Faust“ gehört jetzt dazu – waren zum Zeitpunkt der Premiere nie fertig geprobt und stolperten von einer Schlussszene in die nächste. Die entscheidende Frage dreht sich nicht um Gretchen und die Religion. Daran haben sich Castorf & Co. schon vor Jahren im Dostojewski-Zyklus abgearbeitet. In der Volksbühne nachts um halb eins streiten sie müde: „Wer hat die Scheißwette eigentlich gewonnen?“ Martin? Marc? An diesem Abend gewinnt das Theater.

Sturm und Drang und Rock’n’Roll

Langzeitbeobachter der Castorf’schen Wetterbewegungen waren schon in der Pause der Meinung, ihr Regisseur trete nun in die Phase seines Alterswerks ein. Begonnen hatte es vor einem Vierteljahrhundert am Rosa-Luxemburg-Platz mit Schillers „Räubern“, also Sturm und Drang und Rock’n’Roll, und es endet mit „Faust“ ganz klassisch.

Das auch. Aber ein Blick in das praktische Programmbüchlein („Wie man ein Arschloch wird. Kapitalismus und Kolonisierung“) genügt, und alle Hoffnungen auf Klassik, ob Goethe oder Castorf, sind dahin. Castorf schreibt, dass man „Faust“ spielt, „weil man mit dem Faust machen kann, was man will.“ Das macht Castorf ohnehin mit jeder Vorlage; es wird ein Video. Wenn klassisch bedeutet, dass ein identifizierbarer Stil über lange Zeit ausgereift und zum vielfach nachgeahmten Modell geworden ist, dann gehört Frank Castorf schon lange in diese Kategorie.

Castorf verlegt die Show nach Paris

Nur dass die Klassiker unserer Zeit nicht Vollender, sondern in der Regel Zerstörer sind. Vergangene Woche starb mit 90 Jahren in London der in Nürnberg geborene Aktionskünstler Gustav Metzger; er war auf einem der letzten jüdischen Kindertransporte aus Deutschland herausgekommen. Er schuf Werke ohne Dauer, die sich nach einigen Monaten, maximal nach 20 Jahren selbst auflösten. Der Gitarren-Vernichter Pete Townshend von The Who hat Metzger verehrt. Als das Anfang der neunziger Jahre noch etwas Besonderes war, galt Frank Castorf als Stücke-Zertrümmerer.

Vielleicht lief das ja schon immer so: Goethes „Faust II“, vollendet 1832, in seinem Todesjahr, provoziert bis heute durch Chaos und Irrsinn. Raum und Zeit spielen keine Rolle, die Figuren der antiken Mythologie wirken wie bis zum Platzen gefüllte Sprechblasen. Castorf sattelt noch drauf, verlegt die Show nach Paris, ins Bistro, in die Metro. Das sind wieder die Videohöhlen. Das Publikum verfolgt die Handlung, besser die Abhandlung auf den großen Screens, die wie Billboards die Bühne von Aleksandar Denić überragen. Ein finsterer Aufbau mit Horrorfilmplakaten und U-Bahn-Eingang. Vor ein paar Monaten haben Castorf und Denić in Stuttgart die Faust-Oper von Charles Gounod in diesem finsteren, drehbaren Bühnenbild-Montmartre gestemmt.

Endlos wird Émile Zolas "Nana" zitiert

Daher Paris. Man spricht im Volksbühnen-„Faust“ viel Französisch, der Regisseur pflanzt endlos lange Passagen aus dem Roman „Nana“ von Émile Zola zwischen die lose gesampelten Goethe-Szenen. Faust und seine Entourage steigen in den Untergrund. In einem Wagen der Metro spricht Abdoul Kader Traoré, ein Schauspieler aus Burkina Faso, im knallroten Voodoo-Kostüm des Baron Samedi Paul Celans „Todesfuge“. Auf Französisch. Ein großer Moment. Einmal bleibt bei Castorf ein Text stehen, wird nicht sogleich durch den nächsten Einfall dementiert. Faust, der Kolonisator. Der Mörder der Zukunft, aus Deutschland. Celans Gedicht an dieser Stelle wirkt als Klage über das Jahrhundert des Holocaust und des Völkermords in Afrika.

Castorf versteift sich auf Frankreich und Algerien. Die Truppe mit dem aufgedrehten Alexander Scheer (dem heimlichen Faust) zieht in Uniformen der Fremdenlegion um die Häuser, malt sich Folterszenen an algerischen Freiheitskämpfern aus, in einem Film fliegt ein Café mit Franzosen in Algier in die Luft. Alles hängt mal wieder mit allem zusammen. Sir Henry hat einen berührenden Auftritt mit dem Schubert’schen „Leiermann“ und seinem Akkordeon. Musik auch von Jacques Brel und Blood, Sweat & Tears. „Ne me quitte pas“. Nein, so schnell verlassen sie uns nicht. Sophie Rois kommt spät, aber mächtig ins Spiel als heisere Hexe. Wie stets changiert sie zwischen großer Tragödin und Märchentheater.

Eine Imitation des alten Bernhard Minetti

Vor Martin Wuttkes Faust kann es einem wirklich grausen, wenn es nicht so komisch wäre. Er trägt eine hässliche Maske – der greise Goethe, ein schmuddeliger Menschenfeind. Er mimt mit nasalem Gemümmel den alten Bernhard Minetti, mit dem hat er am Berliner Ensemble noch im „Arturo Ui“ gespielt. Minetti war auch einmal ein Faust, ein ganz ungewöhnlicher – damals an der Freien Volksbühne in der Regie von Klaus Michael Grüber, anno 1982.

Grüber hatte das Drama problemlos auf drei Personen kondensiert, Faust, Teufel, Gretchen. Castorf wirft hinein, was ihm zwischen die Finger kommt. Am Schluss auch noch einen langen Gummipimmel für Mephisto. Selbst das erledigt Valery Tscheplanowa mit elegantem Humor. Wie sie – etliche Stunden früher – mit dem künstlichen Menschen Homunkulus im Glas agiert, geht unter die Haut.

Es ist, so oder so, kein leichter Abend. Wir sind 25 Jahre älter. Einige tranken dann ab halb zwei auf der Premierenfeier gegen das Vergängliche, das angeblich nur ein Gleichnis ist. Andere erhoben still daheim ein Glas auf das Schauspiel der Zeit.

Nächste Vorstellungen am 10., 12., 17., 18. und 31. März.

Zur Startseite