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Kultur: Feinde und Zuchtmeister

Listig: Unter dem Motto „Echt falsch?“ befragt die Duisburger Filmwoche 2003 unsere Medienwirklichkeit

In die Top Twenty der deutschen Kinobesucherzahlen schaffte es letztes Jahr nur ein einziger heimischer Dokumentarfilm: Mit rund 700000 Zuschauern landete die europäische Koproduktion „Nomaden der Lüfte“ auf dem siebten Platz. International sieht das Bild nicht besser aus, wenn man von Ausreißern wie Michael Moores One-Man-Kasssenknüller „Bowling for Columbine“ absieht, der es im Dezember auf Platz Neun der Hitliste brachte. Ist das der ersehnte Dokumentarfilmboom – im Jahre Vier nach Wenders‘ „Buena Vista Social Club“?

Nur im Fernsehen, so hat es unlängst der Medienjournalist Fritz Wolf in einer Studie belegt, ist das Dokumentarische durchaus präsent – doch unter dem Vorbehalt zunehmender Formatierung und Vermischung mit anderen Genreformen: Doku-Soap und Gerichtsshow mögen als kleines Beispiel gelten. Der abendfüllende Dokumentarfilm ist auch im Fernsehen die große Ausnahme und wird immer öfter in die dunklen Nach-Mitternachtszonen geschoben. Dass dennoch auch bei den Produktionen, die aufs Kino zielen, fast immer die Sender – und meist die gleichen – die Hände im Spiel haben, ist dabei nur scheinbar ein Widerspruch. Ohne die eifrigen Dokumentarfilmredaktionen von Arte, 3sat und einigen Dritten Programmen dürfte das Dokumentarische auch im Kino auf ein paar selbstausbeuterische Kamikaze-Produktionen und Studentenfilme reduziert bleiben; und bei entsprechenden Filmfestivals bliebe die Leinwand über große Strecken leer.

Bei der Duisburger Filmwoche, seit knapp 30 Jahren wichtigster Festivalschauplatz der deutschsprachigen Jahresproduktion, zeigen Arte und 3sat als Sponsoren der beiden gleichgewichtigen Hauptpreise seit längerem Repräsentanz und Verantwortung. Auch ist der hohe Anteil ihrer Produktionen am Programm durch deren Qualität gerechtfertigt. Bizarr wird es allerdings immer dann, wenn prominente Filme schon vor ihrem Festivalauftritt im Fernsehen zu sehen waren.

Dabei sind TV-Formate wie die vom Kleinen Fernsehspiel produzierte ambitionierte „Absolute Beginner“-Reihe auf der Leinwand eigentlich am falschen Platz. Unter dem Motto „Absolute Beginner – Der erste Job“, im ZDF-Nachtprogramm montags noch bis Mitte Dezember zu sehen, hat der Dokumentarfilmer-Nachwuchs sieben Filme realisiert – vom bitter-ironischen Blick auf weibliches Bewerbungsmarathon (Katrin Rothes „Dunkler Lippenstift macht seriöser“) bis zu den inneren Migrationsgeschichten von „Westwärts“ (Regie: Ursula Gruber). Während Katrin Rothe geschickt Trickfilmsequenzen einsetzt, um die oft entscheidenden Momente zu erzählen, bei denen keine Kamerapräsenz gestattet ist, durfte Andreas Pichler für „Call Me Babylon“ mit offizieller Erlaubnis in einem Amsterdamer Call-Center drehen, wo Jugendliche aus aller Welt bei harter Arbeit und Fastfood coolen Lifestyle mimen. Leider passt sich der atmosphärisch stimmige Film allzu mimetisch an das Lebensgefühl seines jugendlichen Zielpublikums an. Ein bisschen mehr Distanz und Tiefgang hätte hier nicht geschadet.

Das Fernsehen als Feind und Zuchtmeister: In Duisburg ließ sich an einigen Beispielen beobachten, wie sich das Zerrbild – hier böse TV-Ästhetik, dort künstlerische Gegen-Filmform – in einer produktiveren Dialektik aufzulösen beginnt. In ihnen wird die Medienwirklichkeit, vertrautes Setting in Sachen Produktions- und Sehgewohnheiten, intelligent, zäh und listig hintergangen. Auch beide Hauptpreisträger knüpften an eingefahrene mediale Identifikations-Mechanismen an – und unterliefen sie einfach.

„Das Problem ist meine Frau“ von Calle Overweg (NDR, 3sat-Preis) siedelt in den tiefsten Niederungen des Nachmittags-Talk, inszeniert seine vermeintlichen Betroffenen aber in einer so offensichtlich arrangierten Studiosituation, dass sich die Frage der Authenitzität nie stellt. „Hilfe, ich schlage meine Frau“ würde die Sendung bei Bärbel Schäfer heißen. Doch die Täter in der nachgestellten Therapiesituation sind Schauspieler, ihr Improvisations-Material aus Recherchen des Autors künstlich kondensiert. Der Film verkörperte treffend das Festivalmotto „Echt falsch?“ und fand für Brechts V-Effekt neue Aktualität. Glaubwürdigkeit entsteht nicht aus natürlicher Präsenz, sondern dort, wo wir selbst in künstlich verdichteten Verhaltensweisen Vertrautes wiedererkennen.

Auch in Karin Jurschicks „Die Helfer und die Frauen“ (ZDF/3sat, Arte-Preis) geht es um Erkenntnis statt Betroffenheit. Und um Gewalt gegen Frauen – um den Frauenhandel zwischen Balkan und Osteuropa und, so die Jury-Würdigung, die verdrängte Tatsache, dass „die internationalen Streitkräfte im Verbund mit Hilfsorganisationen bei ihrem Einsatz in Krisengebieten selbst die Strukturen für neue Krisen schaffen“. Ein klassisches Reportagethema: Doch Jurschick gelingt der Versuch, statt der üblichen Opfergeschichten übergreifende strukturelle und ökonomische Zusammenhänge des „Kreislaufs der Frauen“ darzustellen. Dabei hebt sie mit einigen so kleinen wie weit reichenden Eingriffen die geläufige Reportage-Ästhetik aus den Angeln und wirft auch einen erhellenden Blick auf die mediale Selbstdarstellung der inkriminierten Organisationen.

Dass „Die Helfer und die Frauen“ vor wenigen Wochen beim Internationalen Leipziger Dokumentarfilmfestival nicht zu sehen war, lässt sich nur mit der Ignoranz der dortigen Auswahlkommission erklären. Unverdient preislos blieb auf beiden Festivals ein herausragendes Beispiel sensibler Auseinandersetzung mit aktueller Zeitgeschichte: „Technik des Glücks“, von den Babelsberger HFF-Studenten Chris Wright und Stefan Kolbe ganz ohne Fernsehgelder produziert, ist ein kunstvoller und emotional erstaunlich reifer Kompilationsfilm über vergangene Umbruchzeiten. Fast komplett aus Amateuraufnahmen damaliger Arbeiterfilmzirkel des DDR-Großkraftwerks Zschornewitz montiert, spiegelt der Film die Selbstwahrnehmung einer bei allen Nöten sehr selbstbewussten Arbeiterklasse. Kurze Zwischeneinstellungen machen den Blick auf einen kaltgestellten Jetzt-Zustand frei.

„Technik des Glücks“ ist ein schwermütiger und humorvoller Ost-Film, bei dem Glück und Trauer, Stolz und Erniedrigung nahe beieinanderliegen. In der rheinischen Ex-Industriestadt Duisburg hatte er sein ganz eigenes West-Heimspiel – und hoffentlich bald auch im Kino.

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