zum Hauptinhalt
315830_0_4a197da6.jpg

© dpa

Fernsehklassiker: Ich bin’s, du kennst mich

Lob der Wiederholung: Weshalb wir in diesen Tagen so gern die immer selben Filme sehen.

Zwischen Weihnachten und Silvester 1995 wütete in Deutschland die saisonale Grippe mit ungewöhnlicher Heftigkeit. Die Tagesschau brachte Bilder von Menschen, die in letzter Minute versuchten, sich qua Impfung vor einer Ansteckung zu retten. Einige Menschen trugen sogar Mundschutz, wenn sie eine Kinovorstellung besuchten.

Für mich war es da längst zu spät. Ich war morgens mit Halsschmerzen aufgewacht, nach zehn Minuten konnte ich mich nicht mehr bewegen. Fieber ist ein eifersüchtiger Gast. Über Stunden segelte ich tiefer und tiefer in die Zonen eingetrübten Bewusstseins. Irgendwann bekam ich doch ein bisschen Angst. Was, wenn ich in einem Fiebertraum einfach verschwinden würde? Allein in einer ziemlich feuchten Studentenwohnung in einem Hamburger Hinterhof, krabbelte ich zu meiner kleinen Videosammlung, griff nach einem Film, den ich weiß Gott wie oft schon gesehen hatte, und drückte auf „Play“.

Ich habe nicht hingesehen. Hier und da hörte ich in den nächsten zwei Stunden ein paar vertraute Dialoge. Die Bilder dazu kannte ich auswendig. Aber als Doktor Dreyfuss die verzweifelte Miss Kubelik in letzter Minute vor dem Tablettenselbstmord rettete und seinem Nachbar, dem vermeintlichen Schürzenjäger C.C. Baxter dazu riet, endlich „ein Mensch zu werden“, war ich selbst bei 40,6 Grad noch gerührt. „Das Apartment“ von Billy Wilder war meine Rettung, eine Art Floß in jenen Weihnachtstagen.

Seltsam könnte man das finden, traurig oder gar erbärmlich. Menschen, die zu Wiederholungen neigen, machen einen einsamen Eindruck. Manchmal sogar einen verrückten. Die Psychoanalyse spricht vom Wiederholungszwang und will den Patienten von der Besessenheit neurotischen Wiederholens mittels harter Erinnerungsarbeit kurieren.

Mancher Patient verweigert jedoch die Therapie. Ich kenne eine ältere Dame, die sich immer dann, wenn sie wieder einmal in emotional gefährliches Fahrwasser mit ihrer über 90-jährigen herrschsüchtigen Mutter gerät, nachts Ingmar Bergmans „Herbstsonate“ anschaut. Sie lasse, sagt sie, Liv Ullmann die Auseinandersetzung mit der Mutter führen. Sie selbst könne das nicht. Ihr fehle die Kraft, gesteht die Dame, die es aber vorzieht, über die Anzahl ihrer „Herbstsonaten“Wiederholungen lieber zu schweigen.

Weniger Hemmungen hatten die Musicalfans, die vor dem Bühneneingang am Berliner Theater des Westens mit Wiederholungsraten im hohen zweistelligen Bereich um die Wette prahlten. Es klang streberhaft und dümmlich, zugleich schimmerte eine rührende Art der Treue durch. Etwas daran glich einer Verbeugung. Auch sie gehört in die Reichweite der Wiederholung.

Auf die Frage nach den drei wichtigsten Büchern der Weltliteratur antwortete der große William Faulkner mit einer Wiederholung: „Anna Karenina, Anna Karenina, Anna Karenina“. Thomas Bernhard ließ in seinem Roman „Alte Meister“ einen Musikkritiker darüber nachdenken, warum er seit dreißig Jahren jeden zweiten Tag ins Kunsthistorische Museum pilgert, um dort stundenlang vor dem Tintoretto-Gemälde „Der weißbärtige Mann“ zu sitzen. Abgesehen davon, dass der Privatgelehrte, den „Weißbärtigen Mann“ für eins der schönsten Bilder hält, die je gemalt wurden, sind es das perfekte Licht im Bordone-Saal, die samtrote Sitzbank und die von einem treuen Museumswärter garantierte Ruhe, ohne die der Musikkritiker nicht leben mag – ja, er behauptet, nicht leben kann.

Die Wurzeln der Wiederholung reichen tief. Sie hängen eng mit unserer Vorstellung von Identität zusammen. Könnten wir uns – oder besser: die Idee, die wir von uns haben – nicht wiederholen, wir müssten jeden Morgen als jemand anderer vor den Spiegel treten. Ohne Wiederholung gäbe es kein Wiedererkennen, kein Argument, keine Liebe, nichts, wovon sich erzählen ließe. Es wäre schrecklich langweilig – ein Trip, nichts weiter, oder wie der dänische Philosoph Søren Kierkegaard schreibt, der eine Berlinreise von 1841 dreimal wiederholte und auf diese Weise vergeblich versuchte, das Glück der Liebe für sich wiederzuholen: „Wenn man die Kategorie der Erinnerung oder der Wiederholung nicht besitzt, so löst die ganze Welt sich auf in Leere und inhaltslosen Lärm.“

Ohne Wiederholungen sind wir verloren. Allein gelassen mit der Wiederholung, leben wir in einer Hölle. Und als wäre das nicht paradox genug, ist die Wiederholung eigentlich unmöglich. Denn nichts wiederholt sich auf den Punkt. Selbst wenn die DVD mir zum 30. Mal „Das Apartment“ vorspielt, bin zumindest ich nicht dieselbe.

Ob wir es wollen oder nicht, die Geste der Wiederholung verrutscht uns mindestens auf die Länge eines Wimpernschlags. In der Philosophie der Postmoderne spricht man deshalb von der Differenz. Davon, dass sich gerade mit der Wiederholung das Neue einschleicht, das unsere Idee vom Ich, vom Leben und der Kunst endlos variiert. Wie auf einen schönen, in der Sonne zitternden Schmetterling können wir auf das Wiederholte zeigen. Wir erwischen es nicht, aber wir versuchen es weiter. Zuletzt ist es wahrscheinlich eine Frage der Liebe.

Wir wiederholen, weil wir Sehnsucht haben. Wenn uns jemand einen Witz oder eine Geschichte zum wiederholten Mal, vielleicht sogar ausgesprochen langweilig erzählt, ist es – „Du wiederholst dich!“ – nicht deshalb unhöflich, ihn darauf hinzuweisen, weil die Geschichte langweilig ist oder kitschig und sentimental, sondern weil wir seiner Sehnsucht damit auf die Füße treten. Das gehört sich nicht. Schon gar nicht zu Weihnachten, dem Fest der Liebe, der Fernsehwiederholung und des „Kleinen Lords“.

5,58 Millionen Zuschauer folgten dem englischen Versöhnungsengel auch in diesem Jahr in die Wiederholung. Ähnliches ist von „Drei Nüsse für Aschenbrödel“, dem tschechischen Märchenzauber zu erwarten, der sich nicht bloß an Weihnachten, sondern dieses Jahr quer durch die Sendeanstalten der ARD gleich achtfach wiederholt hat. Es ist wie mit dem Fieber. Gelegentlich müssen die Gefühle, die seichtesten und die tiefsten, ihre Anker werfen. Man lässt sich gern einmal halten. Möglich auch, dass man an dieser Geschichte wie an einem Haselnussstrauch hängen blieb. Und jetzt kehrt man zurück. Einmal im Jahr muss man an genau diese Stelle laufen. Als habe man dort, wie die Müllerstochter ihren Schuh verlor, etwas wichtiges vergessen. Warum sollten wir sonst immer noch hinsehen?

Stephan Abarbanell, der Leiter der RBB-Programmkoordination, vergleicht die Fernsehwiederholung mit dem Blick „durch einen biografischen Rückspiegel“. Kein Fest, sagt er, sei mit einer so starken Innerlichkeit verbunden. Sie passt zum Geheimnis der Wiederholung. Eine Pause entsteht, ein Zwischenraum. Der Blick streift die Gegenwart nur noch am Rande, und die Welt entfernt sich wie durch einen umgekehrten Zoom. Wie angenehm das sein kann. Nicht nach vorn schauen, nicht auf Augenhöhe mit der Aktualität sein zu müssen.

Das Neue, das Aufregende jedenfalls lässt sich nicht wiederholen. Es will zuerst gesagt sein, will sich bewegen, will vergessen und frei sein. Wiederholungen teilen diese Ambitionen nicht. „Ich bin’s“, flüstern sie, „du kennst mich.“ Sherry zur Suppe, Weißwein zum Fisch. Am Ende eines jeden Jahres, auf dem Sprung in die Zukunft wartet ausgerechnet ein Lehrstück über die Wiederholung auf uns. „Same procedure as every year, James“ – niemand muss Angst vor Überraschungen innerhalb der Menüfolge haben. Das „Dinner for One“ wird akkurat serviert. Es ist eine kindliche Genauigkeit, ein Trotz, der darum weiß, dass sich das Vergnügen nicht zwingen, nicht dressieren, sondern allein als Spiel wiederholen lässt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false