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Musik unter den Himmeln von Ornette Coleman. Joachim Kühn und Émile Parisien im Kesselhaus.

© Michael Felsch

Festival Jazzdor: Züngeln und zündeln

Frankreich trifft Deutschland: Eindrücke vom Festival Jazzdor in der Berliner Kulturbrauerei - unter anderem mit Joachim Kühn und Émile Parisien.

Von Gregor Dotzauer

Mit der einen Welt, in der Jazzmusiker spätestens seit dem Aufkommen des grenzüberschreitenden digitalen Verkehrs zu Hause sind, ist es so eine Sache. Einerseits konnte man in Prag noch nie genauer wissen, was in Shanghai gespielt wird, wobei man in beiden Städten den Blick nach wie vor am liebsten gen New York richtet. Andererseits hat die tatsächliche Mobilität mit der virtuellen nicht Schritt gehalten. Wenn schon Köln und München einen je eigenen Kosmos für sich beanspruchen, wie will man da Berlin und Paris in Verbindung bringen?

Man kann Philippe Ochem, dem Kurator des nun zum zehnten Mal stattfindenden Festivals Jazzdor Strasbourg-Berlin deshalb nicht dankbar genug sein, französische Spitzenmusiker nach Deutschland zu holen, die ohne die konzertierte Aktion links- und rechtsrheinischer Institutionen nie den Weg ins Kesselhaus der Kulturbrauerei gefunden hätten. Umgekehrt würden sich viele deutsche Jazzer ohne Gegeneinladung kaum nach Straßburg verirren.

Bei dieser Gelegenheit kann man auch entdecken, dass der zeitgenössische Jazz bei allen stilistischen Angleichungen zwar von den Idiolekten des Einzelnen lebt, doch auch lokale Soziolekte entwickelt hat. Es gibt eben Alpenjazz und bretonischen Jazz, Maghrebinisches und Balkanisches – alles je nach Völkergemisch und Einwanderungsgeschichte. Manchmal ergeben sich daraus auch deutsch- französische Projekte. Schon vor zwei Jahren hatte Ochem den Geiger Théo Ceccaldi und dessen Cello spielenden Bruder Valentin nach Berlin geholt. Nun kombiniert er die beiden mit dem Gitarristen Ronny Graupe und dem trommelnden Irrwisch Christian Lillinger in einem Quartett namens qÖÖlp. Das ist mindestens ein eigener Dialekt, wenn nicht eine eigene Sprache.

Der Geiger und Komponist Dominique Pifarély, 1957 in Bègles bei Bordeaux geboren, ist seit rund 20 Jahren eine feste Größe in der französischen Szene. Er hat sich als Partner des Klarinettisten Louis Sclavis und des Pianisten François Couturier einen Namen gemacht. Außerdem ist er an zahllosen Theaterprojekten beteiligt und hat, etwa in Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller François Bon, auch immer die Nähe zur Literatur gesucht.

Sein heute bei ECM erscheinende Album „Tracé provisoire“ ist in der Art, wie es auskomponierte und improvisierte Passagen verquickt, von bezwingender Geschlossenheit und Offenheit. Die Musik durchquert heißere und kühlere Klimazonen, feilt an minimalen Klangereignissen und gerät dann wieder ins Fließen, ja ins Grooven, bis abrupte Rhythmuswechsel neue Motive ins Spiel bringen. Geräuschhaftes wie Melodisches intoniert Pifarély dank überragender Technik gleich überzeugend. Besonders mit seinem Kontrabassisten Bruno Chevillon verbindet ihn ein inniges Verständnis – und eine instrumentale Verwandtschaft zwischen Groß und Klein, die bei dieser Deutschlandpremiere live in reizvollen Dialogen ausgesponnen wird. Aber auch Drummer François Merville und Pianist Antonin Rayon, der subtile Abstraktion und Wucht vereint, tragen das ihre zu dieser alle Klischees hinter sich lassenden Musik bei.

Im Kesselhaus ließ sie die Zuhörer dennoch erschreckend kalt, ohne dass man den Musikern vorwerfen könnte, sie hätten unengagiert oder unkonzentriert gespielt. Chevillons Basston steht vor seinem Verstärkerturm mächtig im Raum, wenn er nicht im Gehäcksel virtuoser Hammer-Ons auf dem Griffbrett zerstiebt, Rayon skizziert harmonische Streben, und Pifarély steuert das Unternehmen sicher zwischen allen Klippen hindurch. Vielleicht sind sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass die Dichte ihrer Musik noch Energie übrig lassen würde, die besondere Konstellation dieses Abends in sich aufzunehmen: ein unter der Betonschale des Kesselhauses bei tropischen Temperaturen vor sich hindampfenden Publikums, das willig und kundig war, sich in seiner eigenen Klimazone aber allein gelassen fühlte.

Dauerglut mit Stichflammen

Wie viel eindringlicher zuvor das Duo des 33-jährigen Sopransaxofonisten Émile Parisien und des mittlerweile 72- jährigen Pianisten Joachim Kühn, der übrigens auch bereits mit Pifarély gespielt hat. Trotz der konventionellen Abfolge von Thema, Soli und Rückkehr zum Ausgangspunkt ereignet sich hier mehr als in den Weiten des Quartetts. Eine Dauerglut mit Stichflammen beherrscht das Ungestüm der beiden. Parisien, einer der vielseitigsten Musiker seiner Generation, der sich im Dialog mit dem Akkordeonspieler Vincent Peirani ebenso wohl fühlt wie mit den elektrischen Soundscapes seines Quartetts, injiziert mit irrwitziger Geläufigkeit seine Linien in den Körper dieser Musik. Beboprelikte verschlingen sich mit orientalisch Anmutendem, Elegisches steht neben reiner Signalgebung. Man erkennt Parisien vielleicht nicht sofort an seinem Ton, aber wie souverän er zwischen Sidney Bechet und Wayne Shorter sämtliche Traditionen zusammenfließen lässt, das hört man nicht alle Tage.

Dagegen braucht es keine halbe Minute, um Joachim Kühn zu erkennen. Im Zusammenhang mit seinem jüngsten Trio-Album „Beauty & Truth“, auf dem sein frei flirrendes Spiel in kürzeren Tracks und zwei Songs von den Doors gebändigt wird, hieß es zuweilen, er sei in eine neue Phase seines Spiels eingetreten. Davon kann keine Rede sein. Es ist viel besser: Kühn ist ganz der Alte geblieben, dessen einzige Versuchung es ist, ungehindert vom jeweiligen Charakter eines Stücks mit dem ihm motorisch eingewirkten Formeln loszurasen.

Parisien ist mit Kühn bereits durch sein neues Quintett vertraut, mit dem er für ein im September bei ACT erscheinendes Album vor kurzem im Studio war. In diesem ersten gemeinsamen Duo-Auftritt spielen sie neben Eigenkompositionen auch zwei Stücke des verstorbenen Ornette Coleman, dem sich Kühn nicht erst seit dem gemeinsamen Auftritt in Leipzig 1996 nahe fühlt. Coleman könnte glatt als Fixstern über dieser Musik stehen: Sie rührt an seine oft fast sentimentale Melodieseligkeit, während sie zugleich an den darunter liegenden Harmoniestrukturen zerrt und rüttelt. Im Kesselhaus wollte man die beiden fast nicht mehr von der Bühne gehen lassen.

Das Festival endet heute Freitag (ab 20 Uhr) mit dem Duo des Pianisten Roberto Negro & Théo Ceccaldi, dem Trio Un Poco Loco und der Grooveband Le Bal des Faux Frères. Deutschlandradio Kultur sendet das Konzert von Kühn/Parisien am Montag, 6.6., ab 20.03 Uhr, am 20.6. ab 11.35 Uhr den Auftritt von Sylvain Rifflet. Mehr unter jazzdor-strasbourg-berlin.eu.

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