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Kultur: Festivals: Eine Woche voller Sonntage

Nun singen sie wieder draußen vor der Tür. Wenn der Sommer kommt, blüht die Freiluftkultur.

Nun singen sie wieder draußen vor der Tür. Wenn der Sommer kommt, blüht die Freiluftkultur. Allein in Berlin: Auf dem Gendarmenmarkt wird "Classic Open Air" geboten, auf der Museumsinsel versammeln sich die Kino- und Konzertfreunde, in der Waldbühne geben sich Madonna, die Berliner Philharmoniker und Sting die Ehre. Und just seit gestern treffen sich die Chöre zum "Stimmenzauber", dem Sängerfest am Kurfürstendamm. Das Publikum strömt in Scharen. Egal, ob teuer oder umsonst, Hauptsache draußen. Wenn es sich dann noch um ein Festival handelt, ist der Zuspruch erst recht garantiert.

In diesen Tagen geht das Kulturjahr zu Ende. Zu Ende? Von wegen. Ferienzeit ist Festivalzeit. Der Kulturfreund fährt nicht an den Strand, er reist nach Bayreuth, Salzburg oder Bregenz. Italienreisende lockt es in die Arenen, barocken Kulissen und kargen Mehrzweckhallen von Verona, Spoleto, Pesaro, Macerata, Torre del Lago oder Martina Franca. Für den Wochenend-Trip eignen sich das Schleswig Holstein Musikfestival, Schloss Rheinsberg, die Brandenburgischen Sommerkonzerte oder wahlweise die Musiktage in Hitzacker. Im Elbland wird Operette gegeben, in Avignon trifft sich die europäische Theaterwelt, in Innsbruck kommen die Fans der Historischen Aufführungspraxis auf ihre Kosten und in Montreux die Jazz-Enthusiasten. Die Wiener Festwochen gingen im Juni zu Ende, der Wiener "Klangbogen" steht jetzt ins Haus, nur die Berliner müssen auf ihre Festwochen noch bis zum September warten. Aber auch das stimmt nicht ganz, denn bis dahin hält "young.euro.classics" kräftige Zwischenmahlzeiten für all jene bereit, die auch in der Urlaubszeit auf den anpruchsvollen Konzertabend nicht verzichten möchten.

Die Festivalitis geht um. Allein 88 große, etablierte Musik-, Theater- und Tanzfestivals verzeichnet die Broschüre der "European Festival Association"; jedes Jahr kommen neue hinzu. In Berlin etwa das soeben zu Ende gegangene "Fest der Kontinente", das erste "Internationale Literaturfestival", oder die erwähnte, im Vorjahr gestartete Augustreihe "young.euro.classics". Das Verrückte daran: Sie boomen fast alle, ob sie sich auf Raritäten spezialisiert haben oder mit Vivaldi und Haydn aufspielen, ob in improvisierten Provinz-Spielstätten oder im Zentrum der Metropolen, ob Kammermusik in der Scheune, Oper am See oder Klassiker auf dem Marktplatz. Kaum ist in Berlin das Literaturfestival zu Ende, trifft man sich ein paar Tage später am Potsdamer Platz zum "Weltklang der Poesie". Und lange vor der Buchmesse steht noch das Erlangener Poetenfest auf dem Kalender, pünktlich zu Goethes Geburtstag am 28. August. Um die vortragenden Dichter versammeln sich keineswegs nur eingefleischte Leseratten, sondern zahlreiche Zuhörer, die mit Lyrik oder anspruchsvoller Prosa sonst wenig am Hut haben.

Der Mensch, so lässt sich dieses chronische Erfolgsphänomen leicht erklären, ist ein Gemeinschaftstier. TV-Zeitalter hin, Internet-Weltdorf her: Wer was erleben will, tut dies nicht gerne allein. Dabeisein ist vielleicht nicht alles, aber schon ziemlich viel, denn die Menge steigert die Genuss-Intensität und obendrein die Bedeutsamkeit dessen, was auf der Bühne geschieht. Der Zirkus ist da, hieß das früher. Die Musentempel bleiben geschlossen; das können sie auch, denn die Kunst tritt vor die Tür, geht auf die Straße und kommt uns entgegen.

Spiele ohne Grenzen: Die harten Steinsitze der Arena in Orange, die Holzbänke vor der Freiluftbühne, die Plastikschalen in der Turnhalle am Stadtrand machen das urdemokratische Moment solcher Veranstaltungen buchstäblich spürbar. Auf Festivals ist das Gute, Wahre, Schöne keine Besonderheit für wenige Auserwählte, sondern ein Volksvergnügen für alle. Solche Hinwendung macht sich bezahlt. Und wenn die Natur - der Bregenzer See, die Gefilde der Holsteinischen Schweiz oder die Sterne über der Klosterruine Bad Hersfeld - dazu ihr eigenes Theaterstück aufführt, ist Kultur erst richtig schön. Die Wallfahrtsstätte der Wagnerianer wird nicht von ungefähr der "Grüne Hügel" genannt.

Festivals sind Selbstläufer, fast immer und überall. Nur Putbus musste passen. Das dortige Rossini-Festival im Marstall der ehemaligen Residenzstadt hat nach neun Jahren die Insel Rügen verlassen. Es fehlte, so Intendant Wilhelm Keitel, der Rückhalt von Seiten der Stadt und der Hotellerie. Womöglich mangelte es Rossini an der Ostsee aber auch schlicht am genius loci.

Denn der stand am Anfang der Festivalitis. Ob Wagner in Bayreuth, oder Mozart in Salzburg: Hier fühlen sich die musikalischen Geister so richtig zu Hause. Der eigentliche Erfinder des Kulturtourismus heißt übrigens Max Reinhardt. Bayreuth existierte zwar schon seit 1872, aber die Wagner-Festspiele waren und sind eine elitäre Angelegenheit. Erst Reinhardt kam 1920 auf die Idee, eine populäre Allerweltsgeschichte, den "Jedermann" von Hofmannsthal, auf dem barocken Salzburger Domplatz aufführen zu lassen, mit dem Bühnen-Star Moissi in der Hauptrolle, dazu mit Glockengeläut und Orgelklängen aus der Kathedrale. Reinhardt war ein cleverer Bursche, legte im Jahr darauf mit Hofmannsthals "Großem Salzburger Welttheater" nach und lud die angereiste Prominenz, den Geld- und Kulturadel Europas zu wilden Parties auf Schloss Leopoldskron. Heute würde man so einen auf der Stelle als Tourismusmanager engagieren. Und die kulturpessimistische Schelte (von Karl Kraus oder Alfred Polgar) über all den Rummel lieferte schon damals die Begleitmusik zur Premiere.

Aber die ist nur teilweise berechtigt. Die hohe Kunst der Symphonie mag unter den akustischen Bedingungen einer Waldbühne kaum zur Geltung kommen, und doch nutzt die populistische Anmutung solcher Shows und Events am Ende den Werken selbst. Die Zeiten, als noch gejammert wurde, dass es zu viele Filmfestivals gebe, sind längst vorbei. Mit Ausnahme der Big Players von Cannes, Venedig und Berlin schnappt man sich die auserwählten Filme nicht gegenseitig weg, sondern schickt sie auf Tournee. Allein für Deutschland verzeichnet die "Export Union" der deutschen Filmwirtschaft 54 Festivals pro Jahr. Viele kleine, tapfere, unkonventionelle Werke, die keine Chance auf einen ordentlichen Verleih haben, profitieren von ihrer Festival-Karriere und kommen auf diese Weise auf durchaus beachtliche Zuschauerzahlen. Der Event-Rahmen verschafft ihnen kostenlose PR. Die Aufmerksamkeit, die ihnen während eines Filmfests wie von selbst zufliegt, ist ihnen im Programmkino um die Ecke nur eine Woche später niemals vergönnt.

Ein anderes Beispiel: Das Berliner Festival "young.euro.classics" hat sich auf Musik des 20. Jahrhunderts verlegt. Nicht gerade leichte Kost. Aber weil die Eintrittspreise niedrig sind und die Musiker jung, wird das Schauspielhaus im August von einem Publikum gefüllt, das ansonsten die Multiplex-Kinos am nahen Potsdamer Platz bevorzugt. So werden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Man erschließt neue Zuhörerschichten und sprengt obendrein die Grenzen des konventinellen Konzertrepertoires. Und das alles ohne einen Pfennig aus der Berliner Senatskasse.

Dennoch: Kultur ist das Besondere, die Ausnahmeerscheinung. Das, was anders ist als der Alltag und ihn überhöht. Weil sie sich nicht von selbst versteht, weil sie verrückt ist, fantastisch, unerhört neu oder auf archaische Weise wahr. Festivals huldigen dem Zeitgeist; die Kunst, wenn sie etwas taugt, stemmt sich ihm trotzig entgegen. Wenn das Besondere aber zur Selbstverständlichkeit erklärt wird, geht der Blick für all das verloren, was nicht in den Trend passt und nicht zur Show taugt. Die Kulturfonds subventionieren am liebsten die spektakulären Einzel-Projekte; das Nachsehen hat, wer die kontinuierliche Kärrner-Arbeit leistet, wie in Berlin etwa das Haus der Kulturen der Welt. Wer jederzeit nur Torte isst, sehnt sich irgendwann wieder nach Vitaminen.

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