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Kultur: "Floating Cities": Achtung! Bewusstsein!

Die "europäische Stadt" als zentraler Ort bürgerlicher Urbanität - in deren Mitte vernünftige Menschen den politischen Diskurs zur Klärung der allgemeinen Angelegenheiten führen - ist dabei, so hören wir, sich aufzulösen. Was Berlin derzeit an seinen ausfransenden Rändern erlebt, haben Regionen wie das Ruhrgebiet schon hinter sich: Zersiedelung, Verlust von Mitte, Funktionswandel.

Die "europäische Stadt" als zentraler Ort bürgerlicher Urbanität - in deren Mitte vernünftige Menschen den politischen Diskurs zur Klärung der allgemeinen Angelegenheiten führen - ist dabei, so hören wir, sich aufzulösen. Was Berlin derzeit an seinen ausfransenden Rändern erlebt, haben Regionen wie das Ruhrgebiet schon hinter sich: Zersiedelung, Verlust von Mitte, Funktionswandel. Was im Siedlungsbrei von Einkaufsmärkten und Autobahnauffahrten sichtbar wird, findet seine Entsprechung im inneren Erleben der Stadtbewohner: als Vereinzelung. "Jeder ist seine eigene Öffentlichkeit", formulierte das ein Teilnehmer der Diskussion um das Phänomen der Floating Cities am Wochenende im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Das ließe sich am Beispiel der vielen untereinander beziehungslosen Handy-Gespräche in der U-Bahn oder auf der Straße hübsch belegen. Der Einwurf zielte allerdings darüber hinaus: darauf, dass der Stadt und ihren Bewohnern "Ganzheitlichkeit" abhanden gekommen sei, während sich die Leute von ihren fragmentierten kleinen Festungen aus mit Hilfe neuer Medien neue Wege der Kommunikation schaffen.

Neue Wege - eine alte Geschichte. Denn die Vorstellung, dass Stadt "in Bewegung" sei, gehört so verlässlich zur Kritik und zum Lob des Urbanen wie das Bild der "Gegensätze", von denen sie geprägt ist. Beide Stereotype vereinen sich in der Idee, die Stadt sei ein Körper, der lebt - und sterben kann. Mit der äußeren Hülle dieses Körpers befassen sich Planer und Architekten: Wer ist für sein Inneres zuständig? So könnte man die Ausgangsfrage formulieren, aus der das Projekt "Geist und Seele der Stadt" entstanden ist. Die Berliner Guardini-Stiftung plant für 2002 eine Ausstellung zu diesem Thema, dafür diente die Tagung "Floating Cities" als Vorbereitung. Was bedeutet es für die Stadt, wenn die Produktionsstätten verschwinden? Bringen Wissensträger und Dienstleister eine Renaissance des Städtischen? Wie nutzen wir leere Räume, die nach dem Abzug von Kasernen, Fabriken, Bahnbetrieben, Flughäfen entstehen? Gelingt es den Künsten, "Landmarken" zu setzen, die neue Orientierung - nach innen, zurück in die Städte - ermöglichen? Was geschieht mit denen, die in solchen Prozessen an die Ränder gedrängt werden, Arbeit und Obdach verlieren, mit ihrer Anwesenheit den schönen Schein der "neuen Mitte" in Frage stellen?

Gute Fragen. Zusammengerufen, sie zu debattieren - im dunklen Saal, während draußen die Stadt vorbeifloss in Ausflugsbooten, Touristenbussen und auf den bunten Flügeln der Christopher-Street-Day-Parade - waren Architekten, Theologen, Künstler, Kulturwissenschaftler, Soziologen, Kritiker. In dieser Zusammenstellung lag der wichtigste Erfolg der Tagung: Ein "homme des pierres", wie sich Mario Botta, Erbauer wichtiger Kirchen und Synagogen, selbst beschrieb, führt den Dialog mit Vertretern des digital space wie Tanja Diezmann und Georg Zeitblom; ein Planer städtischer Randgebiete wie der Genueser Architekt Stefano Boeri lauscht der Kulturwissenschaftlerin Susanne Hauser, wenn sie "Ökonomien der Aufmerksamkeit" beschreibt. Ihr Vortrag befasste sich mit den Werbestrategien der Städte, die immer neue events erfinden, um sich in einer Nachahmung der Medienästhetik ihren Anteil am Kuchen internationaler Touristik zu sichern.

Das Stichwort "Aufmerksamkeit" führt, besonders in seinen englischen Variationen, noch weiter: awareness steht für ein Bewusstsein vom Stand der städtischen Dinge, attention ist nötig im Alltag des städtischen Lebens. So ist das Plädoyer des Architekten Bernhard Schneider zu verstehen, die leeren Zonen vor und unter den Autobahnschneisen ebenso kreativ zu nutzen wie die Bögen unter der Stadtbahn, dem längsten Gebäude Berlins. Denn die "lineare Kanalisierung" der Schneisen schränkt die Bewegungsfreiheit der Stadtbewohner ein; immer noch dominiert Autoverkehr den Fußgängerspielraum, wie am Potsdamer Platz, wo der Übergang von Renzo Pianos "europäischer Stadt" zum Sony-Gelände amerikanischen Zuschnitts nur an einer einzigen Stelle möglich ist. Die Planung, oder ihr Versagen, hat in der Stadt (so der Ethnologe Marc Augé) "Nicht-Orte" geschaffen, die erst durch menschliche Nutzung - durch Übertretung sinnloser Verbote! - wieder zu "Orten" werden: in Berlin etwa zwischen dem Staatsratsgebäude und dem Außenministerium und an anderen Stellen der Stadt, deren "Passierbarkeit" wir Stadtbewohner einfordern sollten.

Wir aber haben gelegentlich Angst. Manchmal ist die Stadt zu groß, sind ihre Straßen zu breit; wenn es dunkel wird, reduzieren wir uns selbst vom bewussten Nutzer zum furchtsam versteinerten Gast. Eine Phantasie: Es ist Nacht, die Stadt schläft - beinah. Für wenige Stunden verfällt Berlin in einen "unruhigen Schlummer", schrieb Paul Lindenberg schon 1895. Einige sind immer unterwegs: späte Bummler, frühe Aufräumer. Nachtbusse ziehen ihre Spur durch die Stadt. An einer Haltestelle drückt sich ein Mensch an die Wand und hofft, dass ihm keiner was tut. Das ist unangenehm, das soll anders werden. Aus Kreisen der Sicherheitsdenker wird die Video-Überwachung vorgeschlagen, wie sie in England längst existiert. Nun will sich aber dieses Ich an der Haltestellenwand zwar gern schützen, aber doch nicht überwachen lassen: Hier treffen Theorie und Praxis der Stadt aufeinander, hier fand die Konferenz ihren Mittelpunkt.

Das Projekt der Gruppe "chat-stop" greift ein Bedürfnis nach Sicherheit auf und versucht, zur bloßen Kontrolle die Alternative zu finden: An Haltestellen werden außer Kameras auch kleine screens montiert, 16 an der Zahl vielleicht, die von jeder Station angerufen werden können und zwischen den isolierten Stationen ein Netz gegenseitiger Sicht- und Ansprechbarkeit herstellen. Das "subjektive Sicherheitsempfinden" soll wachsen; wer "nicht allein" ist - weil an anderen Bildschirmen, anderen Haltestellen andere Einsame warten - , hat weniger Angst, kann andere Wartende anwählen, mit ihnen kommunizieren. Im Haltestellen-Netz entsteht ein "neuer öffentlicher Raum", nicht von oben her kontrolliert , sondern horizontal funktionierend, im Gespräch der Stadtbenutzer untereinander. Ein Pilotprojekt ist für 2002 anvisiert, eine der Haltestellen soll am Kottbusser Tor stehen. Der langjährige Anwohner dieses schönen Platzes freilich entwickelt Skepsis, was das Risiko des Vandalismus angeht oder das der bloßen Umnutzung. Werden sie tatsächlich miteinander reden, von Station zu Station? Die sich schon in der U-Bahn kaum wahrnehmen, sich beim Umsteigen vor die Füße treten? Von ihnen - nein: von uns - hängt es ab.

Manches sagt sich leicht: "Metropolen brauchen Zuwanderer" (Rainer Münz) oder "Die Großstadtbevölkerung ist mobil" (Hartmut Häußermann). Soll so etwas nun in Geist und Seele der Stadtbewohner übergehen und von da aus in den Körper der Stadt - wie denn bloß? Bieten unsere Städte Räume, in denen wir zu uns kommen? Da sind jene gefragt, die noch Utopien haben. Für die religiöse Bevölkerung gibt es Antworten - was machen die anderen? Wie bewegen wir uns in der neuen Stadt, die nur durch unsere Beteiligung wieder Stadt wird? Wenn die Orte der Erinnerung Orientierung gäben, wie es zum Tagungsende anklang, müßten wir unsere Blicke rückwärts richten. Das wäre ungenügend. Im Vorwärtsgehen könnte es zunächst reichen (nach einem Wiener Buch von Georg Schall, "Großstadtbenehmen" von 1923), das "klaglose Abwickeln des Großstadtverkehrs" einzuüben: Nicht so tun, als wäre alles nur unserer Gesellschaft zuliebe hier, sondern so zu handeln, als wären wir in jeder Situation zum Vergnügen oder auch nur zur Entlastung des Nachbarn da. Diese Probe steht aus, alltäglich.

Joachim Schlör

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