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Fotograf wird 70: Michael Ruetz: Die Zeit bannen

Mit dem Auge seiner Kamera sehen wir die Zeit, unsere Zeit. Kann man mehr von einem Fotografen sagen? Man könnte auch sagen: Der Blick auf die Bilder von Michael Ruetz ist begleitet von kleinen Wiedererkennungsstößen, in denen sich das kollektive Bewusstsein der Deutschen meldet.

Das Westberlin der ausgehenden sechziger Jahre, Vollversammlungserregung und sehnsüchtige Stadtlandschaft, die Gegenwelt der DDR, Staatsmaschine und Bürgerskepsis – in diesen Bildern, mit denen dem Anfänger damals der Durchbruch gelingt, kondensiert sich der Atem der Zeit. Nicht wenige von ihnen sind zu Ikonen geworden.

Denn Ruetz ist nicht nur ein vorzüglicher Fotograf. Er verfügt über das Vermögen, mit seinen Bildern jenen Augenblick festzuhalten, in dem Geschichte und tiefe Bedeutung kumulieren und sozusagen ins Innere von Zeit und Gesellschaft durchschlagen. Diese Fähigkeit ist, natürlich, das Ergebnis besessener Arbeit, aber es tritt hinzu, dass Ruetz auch als Fotograf ein Intellektueller ist. Der Seiteneinsteiger, der mit 24 Jahren seine erste Kamera erwirbt, hat Sinologie, Japanologie und Publizistik studiert und ist auf der Höhe der geisteswissenschaftlichen Reflexion. Als er 1975 als Externer bei Otto Steinert und Willy Fleckhaus in Essen dann doch ein Examen ablegt, erscheinen seine Bilder schon in den großen internationalen Zeitschriften.

Dieser ungewöhnliche Weg hat Ruetz’ Werk geprägt. Er hat aus dem Reporter, der wie irgendeine der Größen des Metiers den weltweiten Sensationen auf der Spur war, den kulturhistorischen Entdecker gemacht – auf Goethes und Fontanes Spuren, mit besonderer Passion für Italien. Es hat ihn, den eigenwilligen Kopf, den veritablen Metaphysiker des Bildes schließlich in ein kühnes Unternehmen gestürzt, das ohne Vergleiche ist. Es trägt den Titel „Timescape“ und stellt nichts Geringeres dar als ein Ringen mit der Zeit selbst, dem großen Rätsel der Existenz.

Indem Ruetz in großen Abständen den gleichen Ort fotografiert, nimmt er die Spur von Veränderung und Vergehen auf. Im Berlin nach 1989 hat er sein Feld gefunden. Entstanden ist in einer Fülle von Aufnahmen – Straßen, Gebäude, Plätze – ein grandioses Dokument der gewaltigen Metamorphose, die sich mit dieser Stadt vollzogen hat. Für diese einzigartige historische Periode ist Michael Ruetz, dem gebürtigen Berliner, fast so etwas gelungen wie das Bannen, ja, das Überwältigen der Zeit. An diesem Sonntag wird er siebzig Jahre alt.

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